Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
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Fataler noch war aber die Sache mit der Grundstücksgrenze. Ihr genauer Verlauf war in keinem Dokument erfasst. Ein folgenreiches Versäumnis. Für Reinecke verlief sie dem eigenen Hörensagen nach auf der Mitte des Weges. Dieser gefühlten, geglaubten und geschätzten Grenze galt es Respekt zu verschaffen. Wer den Grasweg mähte, durfte dies nur bis zur Luftgrenze tun. Dahinter begann Reineckes unantastbares Reich der Gräser, Gänseblümchen und Wegeriche. Den unbefugten Mähern drohte er in einem Wutanfall an, sie totzuschlagen. Er streute Reisig aus, um die Rasenmäher zu schädigen, aber die Nachbarn fegten das Reisig einfach zur Seite. Reinecke verteilte es erneut. Die Nachbarn warfen es über den Zaun. Reinicke warf es zurück. »Wer sich mit mir anlegt«, drohte er finster, »der legt sich mit dem Teufel an, und wer sich mit dem Teufel anlegt, der muss durch die Hölle gehen.« Die Kaczmareks lachten. Reinecke blieb nur noch der Knüppel.
Am Abend des 22. September 2008 findet er einen provozierenden Reisighaufen direkt vor seinem Gartentor. Abgeladen hat ihn ein anderer Feind, aber Reinecke hat die Kaczmareks im Verdacht. Und tatsächlich trifft er Martin auf dem Grasweg. Vor Gericht wird er aussagen, den jungen Kaczmarek auf frischer Tat beim Reisigwurf ertappt zu haben. Reinecke lässt den Knüppel sprechen. Der Teufel tut sein Werk. Der Sohn bricht blutend zusammen. Als seine Eltern ihm zu Hilfe kommen, ereilt auch sie ihr Schicksal: »Ich habe zugeschlagen, bis sie zu Boden gegangen sind. Das ging ziemlich schnell. Das war’s dann. Ein Abwasch.«
Für Reinecke war es Notwehr, psychisch wie physisch. Er hat nichts getan, nur sich verteidigt und das Recht: die Straßenverkehrsordnung, das Kleingartengesetz der Bundesrepublik Deutschland und das des Landes Niedersachsen. Vor dem Landgericht Hildesheim bemüht er eine höhere Instanz als die menschliche: »Ich bin kein Mörder und Totschläger. Eines Tages stehe ich vor dem Richterstuhl des Ewigen, und ich weiß, er spricht mich frei.«
Für den ermittelnden Staatsanwalt ist Reinecke ein Mörder und Verbrecher, ein Mann der »unbändigen Wut« und des »menschenverachtenden Vernichtungswillens«. Die Schuld wiege deshalb besonders schwer. Für den Psychiater ist er das Produkt einer unglücklichen Kindheit. Der Vater, ein Stalingrad-Kämpfer, war unberechenbar und gewalttätig. Die Mutter soll sich deswegen das Leben genommen haben. Aber Reinecke bekam sein Leben trotzdem in den Griff. Ein anständiger Beruf, eine anständige Ehe, ein anständiges Leben gaben ihm Halt. Vier Jahre vor dem Mord nahm ihm eine Prostataoperation die Potenz. Das hat ihn verbittert. Was jetzt noch Befriedigung gab, war der Kampf für Sitte, Recht und Ordnung. Da, so sagte er vor Gericht, sei er »ziemlich pingelig«.
Eine Pingeligkeit, die es als gutes Recht erscheinen lässt, drei harmlosen Menschen den Schädel einzuschlagen, ist ein Paradefall für die Moralpsychologie: von der streng reglementierten Gruppenmoral einer Kleingartensiedlung über Reineckes Autoritätshörigkeit zu dessen Vorurteilen gegenüber den Normverletzern. Und natürlich ist es ein Modellfall für shifting baselines, wenn die Wahl der Mittel gegen die »Feinde« in vielen kleinen Schritten ins Monströse abdriftet. Kurz gesagt: Das Beispiel zeigt, was passiert, wenn alles zusammenkommt, was die Moral unmoralisch macht.
Wollte man dem Mörder Reinecke von den Ufern der Aller sehr schmeicheln, so stellte man ihn in eine Reihe mit dem Mordbrenner Michael Kohlhaas von den Ufern der Havel aus Heinrich von Kleists gleichnamiger Novelle aus dem Jahr 1810. Der historisch verbürgte Kohlhaas verliert durch Willkür und Unrecht zwei Pferde und seinen Knecht an den Junker von Tronka. Je mehr er sich gegen das Unrecht auflehnt, umso schlimmer wird seine Situation. Als schließlich sogar Kohlhaas’ Frau darüber zu Tode kommt, greift dieser zur Selbstjustiz. Aus dem rechtschaffenen Pferdehändler wird ein »fürchterlicher Mensch«, ein unversöhnlicher Mordbrenner. Am Ende verurteilt das Gericht
den Junker von Tronka zur Rückgabe der Pferde. Kohlhaas aber wird wegen Landfriedensbruch zum Tod unter dem Rad verurteilt.
Die Pointe in Kleists Novelle ist perfide. Das unschuldige Opfer, das völlig im Recht ist, steht am Ende der Geschichte als schlimmerer Verbrecher dar als seine willkürlichen Peiniger. Der Philosoph Ernst Bloch nannte Kohlhaas dafür den »Don Quijote rigoroser bürgerlicher
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