Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Unsere Sozialordnung gleicht einer Landkarte mit Territorien, und unsere Normen markieren die Grenzen. Aus diesem Grund können Sie sich nicht benehmen, als wenn Sie in einer Wüste wären. Wie im 1. Teil des Buches ausgeführt, geht es uns im Leben eher selten darum, unsere Interessen durchzudrücken. Den weit größeren Teil verbringen wir damit, uns gemäß von Normen zu verhalten. Wir wollen nicht dumm auffallen.
Selbstverständlich gibt es in unserer Gesellschaft gleichwohl Normverstöße. Wir alle wissen das. Und wenn wir uns auch darüber aufregen, so ist es doch gut, dass es sie gibt. Warum? Nun, erstens verstoßen auch wir das eine oder andere Mal gegen die correctness. Und zum anderen: Wer wollte in einem Land leben - außer Herr Reinecke -, in dem jeder Verstoß bemerkt und geahndet wird? Jeder moralische Grundsatz wird zu einem Gräuel, wenn er uneingeschränkt zur starren Regel erhoben wird. Immer ehrlich sein, immer gerecht, immer fair, immer mitfühlend, immer großzügig, immer dankbar und so weiter - wer möchte so sein? Ist dies tatsächlich ein erfülltes Leben? Oder wäre es nicht ein privater Gesinnungstotalitarismus, von
dem wir froh sind, dass nicht alle so denken? Die Kunst, kein Egoist zu sein, besteht nicht darin, dass wir immer und jederzeit »gut« sind.
Ein hübsches Beispiel dafür, wie gefährlich es wäre, die Moral zu ernst zu nehmen, beschrieb der englische Dichter William Makepeace Thackeray (1811-1863). In seiner Glosse On Being Found Out aus dem Jahr 1861 widmete er sich der Idee eines Staates der völligen Wahrheit und Gerechtigkeit. 3 Einem Staat wie dem, von dem Condorcet geträumt hatte: »Stellen Sie sich einmal vor, dass jeder, der ein Unrecht begeht, entdeckt und entsprechend bestraft wird. Denken Sie an all die Buben in allen Schulen, die verbleut werden müssten; und darin die Lehrer und dann den Rektor. … Stellen Sie sich den Oberbefehlshaber vor, in Ketten gelegt, nachdem er vorher die Abstrafung der gesamten Armee überwacht hat. Kaum hätte der Geistliche sein ›eccavi‹ gerufen, würden wir den Bischof ergreifen und ihm einige Dutzend verabreichen. Nachdem der Bischof dran war, wie wäre es mit dem Würdenträger, der ihn ernannt hat? … Die Prügel sind zu schrecklich. Die Hand erlahmt, entsetzt über die vielen Rohre, die sie schneiden und schwingen muss. Wie froh bin ich, dass wir nicht alle entdeckt werden, ich wiederhole es - und, meine lieben Brüder, ich protestiere dagegen, dass wir bekommen, was wir verdienen.«
Nun, wir dürfen sicher sein, dass all das bei uns nicht geschieht. Eine Gesellschaft, wie Thackeray sie beschreibt, ist in keiner Hinsicht denkbar. 4 So wichtig es ist, dass wir einiges von anderen Menschen wissen, um mit ihnen umgehen zu können, so wichtig ist es zugleich, dass vieles im Dunkeln bleibt. Wie bereits gesagt, ist Allwissenheit in unserem Alltag weder möglich noch ein erstrebenswertes Ziel. Die Verhaltenskonten, die wir von anderen führen, sind ebenso unvollständig wie die der anderen von uns. Würde eine Instanz wie der Staat daran etwas ändern wollen, würden wir uns mit vollem Recht entrüsten - jedenfalls dann, wenn sie als strafende Macht auftritt. (Tatsächlich
existiert die totale Transparenz durchaus in unserer Gesellschaft. Nämlich wenn Sie über Google im Internet recherchieren. Doch solange niemand damit rechnet, dass Google unsere Daten öffentlich macht, sind wir nicht allzu tief beunruhigt.)
Wenn jedoch jeder die Möglichkeit hätte, alles über jeden anderen zu wissen, bräche unsere Gesellschaft ohne Zweifel zusammen. Schon Thackeray vermutet, dass die größtmögliche Transparenz nicht zum sozialen Frieden führt, sondern zum Unfrieden: »Was für eine wundervolle, schöne Fürsorge der Natur, dass das weibliche Geschlecht meist nicht geschmückt ist mit der Begabung, uns zu entlarven … Möchten Sie, dass Ihre Frau und Ihre Kinder Sie so kennen, wie Sie sind, und Sie präzis nach Ihrem Wert würdigen? Wenn ja - mein lieber Freund: Sie werden in einem tristen Hause wohnen, und frostig wird Ihr trautes Heim sein. … du bildest dir doch nicht ein, dass du so bist, wie du ihnen erscheinst.«
Ein Kenner unserer heutigen Gesellschaft wie der Freiburger Soziologe Heinrich Popitz (1925-2002) gibt Thackeray dabei völlig Recht: »Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren. Eine Gesellschaft, die jede Verhaltensabweichung
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