Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Moralität«. Für unsere heutige Gesellschaft ergibt sich daraus die gleiche Konsequenz wie zu Kohlhaas’ Zeiten: Recht zu haben ist nur ein Wert in unserer Gesellschaft unter anderen Werten. Und es ist gewiss nicht der höchste. Natürlich sind Kohlhaas’ Motive für Mord und Totschlag viel überzeugender als die Reineckes. Doch in beiden Fällen stellt sich die Frage nach dem Wert von (Rechts-)Normen in der Gesellschaft: Man sollte sie achten, aber man sollte sie nicht zu bitterernst nehmen.
Soziale Situationen allein im Namen einer höheren Ordnung zu entscheiden - eines Prinzips, einer Maxime, einer Norm - hat immer etwas Unmenschliches. Man denke nur an die radikalen Abtreibungsgegner in den USA, die in den letzten Jahren wiederholt ein vermeintliches Recht selbst in die Hand nahmen. Mehrere Ärzte, die Abtreibungen durchgeführt hatten, wurden von ihnen erschossen. Mit der grotesken Pointe, dass es nach Ansicht der Abtreibungsgegner legitim und gefordert sei, einen Menschen zu ermorden, um das Prinzip der Heiligkeit allen, auch des ungeborenen Menschenlebens zu verteidigen.
Ich bin gerade aufgestanden, um mir im Bistrowagen des Zuges einen Kaffee zu holen. Als ich ankam, führte der Schaffner, ein freundlicher gutmütiger Mann, gerade ein Gespräch mit einem Fahrgast. Der Mann beschwerte sich, lautstark und mit wichtigem Gesicht, darüber, dass der Zug auf dem letzten Bahnhof nicht vorschriftsmäßig eingefahren sei. Die Wagen befanden sich nicht auf dem vom Wagenstandsanzeiger vorgesehenen Platz. So hatte er sich durch drei Wagen zu seinem reservierten
Sitzplatz schieben und hangeln müssen. Eine Zumutung! Nun schrie er den Schaffner an und forderte mit rotem Gesicht wütend Schadensersatz. Die Kohlhaase und Reineckes lauern überall …
Moralphilosophisch ist das ein merkwürdiger Befund: Es gibt Wichtigeres als die Gerechtigkeit! Man darf vielleicht noch weiter gehen und sagen: Es ist sogar alles in allem gut so, dass es in unseren menschlichen Gesellschaften keine absolute Gerechtigkeit gibt! Diese Behauptung mag zunächst verblüffend sein. Ist eine allumfassende Gerechtigkeit nicht ein Menschheitstraum? Der französische Aufklärer Marie Caritat de Condorcet schrieb sogar den Satz: Glück ist, »wenn das gesamte System der Gesellschaft auf der unwandelbaren Grundlage von Wahrheit und Gerechtigkeit gegründet« ist. 2 Aber vermutlich ahnte er noch nichts von der eigenwilligen Tücke von Normen und Normsystemen.
Normen sind eine seltsame Sache. Der Idee nach sind sie Regeln, die unser Zusammenleben leichter und besser machen sollen. Selbst die seltsamste Kleingartenregel hat darin ihren Sinn. Wer die Größe des Nutzgartenanteils nicht festlegt, der läuft Gefahr, dass ein Bauer die Parzellen mietet und in eine Obstplantage verwandelt. Und wer die Wuchshöhe nicht beschneidet, der provoziert die Verschattung der Nachbargärten. Jede dieser Regeln soll einem Konflikt vorbeugen. Die Frage ist nur: Wenn man jedem Konflikt vorbeugt, wie viel Spaß macht dann noch das Leben? Und man denke auch an den Verkehrsplaner Monderman: Zu viele Regeln schaden dem Selberdenken.
Das Ziel der Ethik ist nicht die größtmögliche Lebenssicherheit. Es ist die Chance auf ein erfülltes Leben für möglichst viele Menschen. Normen sollen uns dazu dienen. Keinesfalls ist es ihr Sinn, dass wir ihnen dienen. Das Schwierige an Normen ist nur, dass man sie, wenn sie einmal da sind, nur sehr schwer wieder abschaffen kann. Es ist viel leichter, Normen zu vermehren, als sie zu verringern. Selbst in unserer sehr freien Welt in den westlichen
Ländern haben wir nicht weniger Normen als früher. Sie sind nur geschickter versteckt. Die Zahl der ausgesprochenen Regeln ist kleiner geworden, die der unausgesprochenen größer. Man denke nur an die stille Diktatur der political correctness, die alles übertrifft, was noch vor wenigen Jahrzehnten an Zensur und Selbstzensur denkbar war.
Normen lassen sich nicht ignorieren. Sie sind da, ob wir wollen oder nicht. Selbst Ihr Entschluss, eine Norm gar nicht zu beachten - über rote Ampeln gehen, niemals »bitte« und »danke« sagen, an Häuserwände urinieren, in Restaurants rauchen, im Garten des Nachbarn grillen, in einer Talkshow »Neger« sagen -, ist nicht wertneutral. Die anderen nämlich interpretieren dies nicht als ein schlichtes Ignorieren - sie sehen darin einen Verstoß. Unsere sozialen und auch unsere moralischen Entscheidungen fallen immer auf einem bereits besetzten Terrain.
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