Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
aufdeckte, würde zugleich die Geltung ihrer Normen ruinieren.« 5
Popitz’ Lob der Grauzone in unserem Verhalten ist gut begründet. Für ihn haben Normen »zwangsläufig etwas Starres, Unverbindliches, Fixiertes, etwas ›Stures‹, - und damit stets auch etwas Überforderndes, Illusionäres«. Kein Wunder, dass die moralische Kleingartensiedlung, in der wir alle leben, ab und zu Regelverstöße provoziert. Denn menschliches Verhalten lässt sich nicht normieren wie die Größe von Nägeln oder Schrauben. Und wer nicht gerade in Gifhorn in der falschen Gartenkolonie lebt, wird dafür oft genug nicht bestraft. So etwa wird der, der in Beirut über eine rote Ampel geht, von der Polizei dafür nicht belangt. In Bayreuth dagegen ist das Risiko höher. Der Grund dafür ist klar.
Würde sich die Polizei in Beirut um Verstöße bei Fußgängern kümmern, käme sie zu nichts anderem mehr. Auch Normen unterliegen dem Prinzip der shifting baselines. Wenn alle gegen die Norm verstoßen, wird der Normverstoß belangloser, als wenn alle anderen sich daran halten. Und je mehr wir über die Verstöße der anderen wissen, umso gerechtfertigter erscheint uns unser eigenes Fehlverhalten. Wenn es öffentlich wäre, wie viel andere bei ihrer Steuererklärung tricksen, führte dies gewiss nicht zu einer besseren Steuermoral. Gemäß unserer Vergleichslogik wäre es wohl eher der Anfang einer mutmaßlichen Abwärtsspirale.
All dies bedeutet nicht, dass Normen nichts taugen. Sie sind selbst dann wichtig, wenn sich nicht jeder daran hält. Würde man sie aufheben, so würde sich die Grenze gewiss weiter verschieben. Und doch leben wir gut und gerne mit einer Art »Unschärferelation des sozialen Lebens, die letztlich ebenso der guten Meinung dient, die wir voneinander, wie der, die wir von unserem Normensystem haben. Tiefstrahler können Normen nicht ertragen, sie brauchen etwas Dämmerung.« 6
Falls es dazu noch eines Beweises bedurfte, so lieferte ihn zuletzt der Journalist Jürgen Schmieder. 7 Vierzig Tage lang verzichtete er auf jede Art von Lüge und sagte ausschließlich das, was er für die Wahrheit hielt. So etwa verriet er, dass sein bester Freund seine Freundin betrog, und wurde - sicher nicht zu Unrecht - dafür verprügelt. Auch seine Ehe ging durch schwere Zeiten.
Wer immer ehrlich gegen andere ist, verstößt unausweichlich gegen eine andere Norm: das Gebot der Höflichkeit. Schon Mephisto in Goethes »Faust« wusste davon, indem er meinte: »Wer im Deutschen höflich ist, der lügt!« Unser reales Leben jenseits moralphilosophischer Bücher verlangt immer wieder eine Entscheidung zwischen verschiedenen Normen. Diese Situation müssen wir aushalten. »Mit sich im Reinen sind nur die Doofen« - der Satz Martin Seels gilt auch für Gesellschaften. Und was für die Wahrheit gilt, das gilt auch für jede andere moralische
Tugend: Man sollte sie ernst nehmen, aber nicht zu ernst. Man stelle sich nur einmal vor, wir unterzögen beispielsweise das hehre Prinzip der Leistung einem echten Belastungstest. Wie viel Leistungsgerechtigkeit verträgt unsere Gesellschaft? Wenn jeder verdient, was er tatsächlich leistet, entsteht vermutlich ein ähnliches Chaos in der Gesellschaft, als wenn jeder seine Strafe kriegt.
Natürlich ist auch dieses Beispiel völlig utopisch. Leistung lässt sich nicht objektiv messen. Und was ich leiste, ist nicht nur eine Frage meiner Verdienste, sondern ebenso ein Verdienst anderer. Meiner Eltern zum Beispiel, die mir Talente vererbt haben und mich durch ihre Erziehung prägten. Meiner Lehrer vielleicht noch und meines sozialen Umfeldes. Keiner ist seiner Leistung alleiniger Urheber. Der englische Soziologe Michael T. Young (1905-2002) wandelte 1958 auf Thackerays Spuren und erfand augenzwinkernd die Idee einer »Meritokratie« - einer »Herrschaft der Verdienste«. 8 Jeder Mensch sollte aufgrund seiner tatsächlichen Leistung beurteilt und entlohnt werden. Alle anderen Kriterien - Herkunft, Beziehungen, Protektion und Glück - gehörten eliminiert.
Eine gute Idee? Vermutlich nicht. Denn was würde nun geschehen? Die Einkommensverhältnisse organisierten sich völlig neu. Der eine fällt nach unten, der andere steigt auf. Diejenigen, die jetzt nach der Neuordnung ganz oben stehen, dürften sich mit allem Recht der Welt sagen, dass sie tatsächlich die Besten sind - die berechtigte Elite. Und wahrscheinlich würden sie unerträglich arrogant. Das größere Problem aber bildet die untere Hälfte. Wer
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