Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
wertlos oder im Gegenteil unerschwinglich werden, gerät mein inneres Koordinatensystem durcheinander. Und je fragwürdiger das wird, was bisher materiell gegolten hat, umso stärker strahlt diese Unordnung auch auf mein Sozialverhalten ab. Nicht selten sind starke Verschiebungen des Einkommens an den Verlust sicher geglaubter Freundschaften und Ehen geknüpft.
Unser normales Leben vollzieht sich in zwei Wertungssystemen,
die nur wenig miteinander zu tun haben. Wenn wir den Wert von Gegenständen oder Dienstleistungen einschätzen, dann bewerten wir nach einem anderen Maßstab, als wenn wir den Wert von Freundschaft, Liebe und Vertrauen einschätzen. Einem guten Freund Geld dafür anzubieten, dass er zum gemeinsamen Mahl eine Flasche Wein mitbringt, wäre eine Beleidigung. Wenn wir bei Freunden zum Essen eingeladen sind, legen wir nachher kein Geld auf den Tisch. Und auch unseren Ehepartner bezahlen wir nicht fürs Essen, für Sex oder für seine Unterstützung. So gesehen leben wir in unserem Alltag - zumindest dem Ideal nach - gleichzeitig in zwei verschiedenen Welten: in der Welt der Sozialnormen und der Welt der Marktnormen.
Auch in der Welt der Sozialnormen gibt es ohne Zweifel so etwas wie Bezahlung. Doch die Währung, in der wir tauschen, ist nicht (oder doch nur eingeschränkt) Geld, sondern Aufmerksamkeit. Besonders schwierig wird es, wenn sich beide Bereiche miteinander vermischen. Wenn wir zum Beispiel unseren Freunden Geld leihen, kommen wir auf ein unübersichtliches Terrain. Obwohl es dabei nicht primär um Marktnormen gehen soll, erwarten wir von unseren Freunden hier oft marktkonformes Verhalten. Wie viele Freundschaften sind schon aus eben diesen Gründen in die Brüche gegangen? (So dass die Konsequenz eigentlich nur sein kann, entweder kein Geld zu leihen oder, was wesentlich freundschaftlicher ist, kein marktkonformes Verhalten zu erwarten!)
Betrachtet man die Entwicklung, die sich in den Ländern der westlichen Welt in den letzten 200 Jahren vollzogen hat, so stellt man leicht fest, dass der Bereich der Sozialnormen stark zurückgegangen ist. Der Bereich der Marktnormen dagegen hat unausgesetzt zugenommen. Selbst unsere intimsten Lebensbereiche sind bereits davon unterwandert. 13 Liebesbeziehungen fallen nicht mehr wie der Regen vom Himmel, sondern wir »investieren« in unsere Partnerschaft. Und da die Ware schnell veraltet, sind wir heute auch ebenso schnell bereit, unser Risikokapital
wieder abzuziehen für eine andere Beziehung, die sich mehr lohnt, weil wir stärker auf unsere Kosten kommen.
Der israelische Wirtschaftspsychologe Dan Ariely (*1968) vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston kommt zu dem gleichen Ergebnis, wenn er schreibt: »Wenn eine soziale Norm mit einer Marktnorm kollidiert, verschwindet Erstere. Mit anderen Worten: Es ist nicht leicht, die sozialen Beziehungen wiederherzustellen. Wenn eine Rosenblüte vom Stock herabgefallen ist - wenn eine soziale Norm von einer Marktnorm übertrumpft wurde -, kommt nur selten eine neue nach.« 14 Das ist umso bedauerlicher, als »ein Leben mit weniger Markt- und mehr sozialen Normen befriedigender, kreativer, erfüllender wäre und mehr Spaß machen würde«. 15
Die getrennten Welten von sozialer Logik und Marktlogik machen die Sache der Moral weitaus schwieriger, als Aristoteles und Kant sich dies hatten träumen lassen. Denn vor jeder Tugend und jeder ethischen Maxime steht heute zunächst die Frage, in welchen Bereich die Angelegenheit überhaupt fällt. Ein hübsches Beispiel dafür ist ein früherer Kölner Oberbürgermeister, dessen Namen ich hier nicht nenne, weil ich sicher bin, dass er nicht genannt werden möchte. Der Mann brachte es offensichtlich ohne Schwierigkeiten fertig, sich als sozialer Bürger für die Rechte von Obdach- und Mittellosen einzusetzen. Und gleichzeitig machte er sich im Aufsichtsrat der Kölner Stadtsparkasse dafür stark, solchen Personen den Antrag auf ein Konto abzuschlagen.
Natürlich ist mit alldem nicht gesagt, dass nicht auch unser Marktverhalten soziale Regeln kennt. Doch die Fairness-, Vertrauens- und Ehrlichkeitsverpflichtungen der Wirtschaftswelt leben nicht aus dem Geist von Sympathie, Mitgefühl und Interesse. Vielmehr sind sie ein Minimalkonsens zur Aufrechterhaltung der Spielregeln. Mit ethischen Motiven hat dies in etwa so viel zu tun wie Michael Ghiselins Raubtiermoral: »Kratz einen Altruisten, und du siehst einen Heuchler bluten« (vgl. Wolf unter Wölfen. Das
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