Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Getränk nach Wahl auffüllen. Am Ende des Abends bittet der Kellner den Gast, den Betrag zu zahlen, den dieser für angemessen hält. Da die Kneipe schon länger existiert, darf man vermuten, dass die Rechnung für die Kneipe aufgeht. Wer als Gast so viel Vertrauen entgegengebracht bekommt, gibt sich im Regelfall viel Mühe, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, und zahlt eher mehr als weniger.
Der Clou der Berliner Kneipe liegt darin, dass sie eine extrinsische Motivation (seine Getränke bezahlen zu müssen) in eine intrinsische Motivation (von sich aus einen angemessenen Betrag zu geben) überführt. Und dass der Gast einem Kredit an Fairness mit einer oft höheren Rückzahlung begegnet. Wogegen die Gewohnheiten des Brauhauses leicht einen Unfairness-Verdacht gegenüber dem Köbes schüren.
Wie im zweiten Teil des Buches gezeigt, ist das, was wir für fair oder unfair halten, für angemessen oder unangemessen, eine Frage der Umgebung und der Gruppenmoral. Wenn unsere Arbeitskollegen für einen wohltätigen Zweck viel spenden, weichen wir ungern stark nach unten ab. Nicht anders verhält es sich letztlich
auch bei den Steuern. In der Regierungszeit von Helmut Kohl lag der Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer bei 52 Prozent, bevor die rot-grüne Regierung ihn auf 42 Prozent senkte. 2007 hob man ihn dann für »Reiche« mit 250 000 Euro und mehr Jahresverdienst eher kosmetisch auf 45 Prozent an. Die Anzahl der Unzufriedenen aber, so scheint es, ist gar nicht abhängig von den absoluten Zahlen, sondern vom gesellschaftlichen Klima. In Großbritannien akzeptieren die Spitzenverdiener wohl oder übel sogar sechzig Prozent Einkommenssteuer, ohne dass es deswegen zu Unruhen kommt.
Die Psyche des Menschen funktioniert nicht nach absoluten Zahlen. Und ein erheblicher Teil der Kulturleistungen der Menschheit bemisst sich auch nicht nach dem Schema von finanziellem Gewinn, Kosten und Nutzen. Wenn die intrinsische Motivation stimmt, ist die extrinsische nicht mehr allzu wichtig. Hervorragende Wissenschaftler, die als Privatdozenten ohne festes Professorengehalt an unseren Universitäten arbeiten, tun dies für zum Teil weniger als 1500 Euro brutto im Monat, obwohl ihre Entlohnung zum Himmel stinkt!
Schon der heilige Bonifatius hatte offenbar nicht nach seinen Kosten gefragt, als er die Germanen missionierte (und dabei umkam). Heute dagegen schließt die Kirche vielfach Gemeinden und Dienste mit dem Hinweis, dass es sich finanziell nicht mehr lohnt. Seit wann ist es eigentlich die Aufgabe der Kirche, wirtschaftlich gut dazustehen? Wer alles in der Welt nach materiellen Kosten und Nutzen kalkuliert, zerstört, was uns aus guten Gründen heilig und wertvoll ist. Marktnormen haben in der Kirche wenig verloren. Fragt man einen Kriegshelden, ob er lieber einen Orden hätte oder den doppelten Materialwert in Form von vierzig Euro?
Die gleichen Überlegungen gelten auch im Bildungsbereich oder im Gesundheitswesen. Eine humanistische Bildung lässt sich nicht in Geld aufwiegen und nicht umrechnen in den unmittelbaren materiellen Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft.
Doch ohne humanistisch gebildete Bürger senkt sich das Bildungsniveau mit einem sichtbaren Schaden für die Lebensqualität vieler Menschen. Auch öffentliche Krankenhäuser führt man nicht nach einer schlichten Kosten-Nutzen-Rechnung, ohne Verrat zu begehen an den sozialen Spielregeln der Gesellschaft.
Die Vernachlässigung intrinsischer Motivationen durch die schon von Georg Simmel so benannte »Monetarisierung von fast allem« beschäftigt auch Jürgen G. Backhaus (*1950), Professor für Finanzwissenschaften und Finanzsoziologie an der Universität Erfurt. Seine Beispiele betreffen vor allem die Systemwechsel-Erfahrungen von ehemaligen DDR-Bürgern: »Der Offizier der Nationalen Volksarmee, der an seinen Eid gebunden seine Pflicht erfüllt, erfährt diesen Dienst und die damit verbundene Besoldung, die Ehrungen und den Respekt, der ihm gezollt wird, gänzlich anders als derselbe Mitarbeiter einer privaten Unternehmung zur Sicherung von Gebäuden und Transporten, selbst wenn jede einzelne seiner täglichen Handlungen gänzlich mit seinem früheren Dienst übereinstimmt. Umgekehrt fühlt sich der Mitarbeiter eines ehemals volkseigenen Betriebs, der auf eine Fülle von Sozialleistungen selbstverständlich zurückgreifen konnte, wenn er sich politisch korrekt verhielt, in seinen Erwartungen enttäuscht, wenn die jährliche Urlaubsreise, der Gang zum Arzt
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