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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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sie im bisher gekannten Maß vielfach gar nicht mehr funktionieren wird. Unsere Kinder sind in eine Gesellschaft hineingeboren, die in Zukunft wohl nicht mehr, sondern weniger Geld verteilen wird als bisher. Sollte dies stimmen, so dürfte damit
möglicherweise auch eine Umorientierung verbunden sein - nämlich, dass Geld in Zukunft immer weniger als Maßstab taugt für den gesellschaftlichen Erfolg und das damit verbundene Ansehen. Ein erfülltes Leben nach dem Einkommen zu bemessen ist und war das Stigma einer Zeit, in der es jedem offiziell möglich sein sollte, sich im Laufe seines Lebens finanziell kontinuierlich zu verbessern. Ein erfülltes Leben heute und in Zukunft dagegen könnte gerade darin bestehen, sich von den Zwängen und Exzessen der Wohlstandsgier weitgehend zu befreien, um sein Leben freier und sozialer zu gestalten.
    Die neue Arbeitswelt zeigt die Tendenz, dass die Anzahl derjenigen, die angestellt arbeiten, geringer werden wird; die Anzahl der Freiberufler größer. Die Freiheit steigt, allerdings auf Kosten der staatlich garantierten sozialen Sicherheit. Wer sozial sicher leben möchte, der muss sich diese Sicherheit in Zukunft verstärkt mit Phantasie und mit sozialer Kompetenz schaffen: durch private Netzwerke aus Freunden, Bekannten und Gleichgesinnten. Und das alles nicht etwa deshalb, weil der Staat sich, aus welchen politischen oder ideologischen Überlegungen auch immer, aus diesen Bereichen zurückziehen soll. Sondern weil nahezu unvorstellbar ist, wie er aufgrund der demografischen Entwicklung seine Sozialleistungen in zwanzig oder dreißig Jahren noch aufrechterhalten kann - selbst dann, wenn alle Besserverdienenden der Republik einen Spitzensteuersatz von achtzig Prozent zahlten.
    Unterstützung für eine solche veränderte Arbeitswelt bekäme man selbst dort, wo viele sie kaum erwarten würden: beim jungen Karl Marx (1818-1883). Im Exil in Brüssel brachte er gemeinsam mit seinem neu gewonnenen Freund Friedrich Engels 1845 seine erste Vision zu Papier, wie er sich eine künftige »kommunistische« Gesellschaft vorstellte. Eine Gesellschaft nämlich, wo »jeder sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben,
nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. 8
    Für den jungen Marx war es gerade die Arbeitsteilung, das Zerfallen des Menschen in unterschiedliche »Funktionen«, was seiner Selbstbestimmtheit und seinem Glück entgegensteht. Was uns seit Adam Smith wirtschaftlich erfolgreich gemacht hat, mache uns privat unglücklich, so Marx’ Vermutung. Ohne Zweifel geriet seine hübsche Phantasie ein ganzes Stück zu romantisch. Die Berufswelten des Jägers, Fischers und Hirten stammen aus einem vor-bürgerlichen feudalistischen Zeitalter. Doch die Pointe von der selbstbestimmten Freiheit wirkt nahezu zeitlos anziehend. Kein Geringerer als der bedeutende liberale deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf (1929-2009) gewann ihr noch zu Anfang der 1950er Jahre einen Reiz ab, als er darüber seine Doktorarbeit schrieb. 9 Für Dahrendorf steht beim jungen Marx nichts so sehr im Zentrum wie die Freiheit. Und die erstrebte Utopie sei nicht das stillgestellte Glück einer gleichmacherischen Diktatur, sondern eine »Freiheit der Gleichen«.
    Die zukünftige Wirtschaft in den westlichen Ländern, so scheint es, entwickelt sich tatsächlich allmählich zu einer neuen Form von Dienstleistungsgesellschaft mit ganz neuen Arbeitsbegriffen. Neben der Lohnarbeit wird auch die Erziehungsarbeit von Eltern oder ihre Pflegearbeit gegenüber Eltern und Großeltern als »Arbeit« gewertet werden müssen. Auch Job-Sharing, Teilzeitarbeit und Elternzeiten prägen Teile dieser neuen Arbeitswelt. Und viele Menschen haben nicht nur einen Job, sondern mehrere.
    Der weltgeschichtlich einmalige Ausnahmezustand, wobei Menschen in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten immer weniger gearbeitet haben und parallel dazu auch noch immer wohlhabender wurden, ist vorbei. Diese Zeit zum Maßstab dafür zu machen, wie wir auch in Zukunft leben wollen, ist so borniert wie absurd. Schon jetzt schleppen wir soziale Sicherungssysteme mit uns herum, die sich niemand zu reformieren
traut, obwohl jeder weiß, dass sie schon in naher Zukunft nichts mehr taugen werden. Wer

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