Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
als junger Normalverdiener in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt, bekommt eine Rente, von der er nicht leben können wird, falls er denn überhaupt eine bekommt. Nicht anders sieht es mit den gesetzlichen Krankenversicherungen aus, die ihm im Alter keinen menschenwürdigen Krankenhausaufenthalt mehr garantieren.
Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, ist es mit einem trotzigen »Weiter so!« nicht getan. Und die Rezepte der Linken, die Kassen mit neuen Steuern und neuen Schulden zu füllen, sind ebenso hilflos wie die kosmetischen Einsparungen, die der gegenwärtigen Regierung dazu einfallen. Worum es geht, ist ein grundlegender Umbau unserer Gesellschaft. Vermutlich müssen unsere sozialen Sicherungssysteme vom Faktor Arbeit entkoppelt werden. Wie ein solcher Umbau erfolgen könnte, dazu gibt es einen ganzen Katalog von Ideen, der von unseren Parteien unvoreingenommen diskutiert werden sollte: Ein mit geschickten Motivationen begleitetes bedingungsloses Grundeinkommen gehört ebenso dazu wie die Verlängerung von Arbeitszeiten in vielen Berufsfeldern. Konzepte wie diese bedürfen einer ausgiebigen Diskussion nicht nur im kleinen Kreis, sondern mit der Bevölkerung.
Im Gegenzug dazu sollte die Verantwortung des Einzelnen steigen, ebenso wie seine Chance auf echte Mitbestimmung in Unternehmen, in Parteien und in den Kommunen. Anders als in den Utopien von Marx geht es nicht darum, materielle Werte zu sozialisieren - was letztlich nur zu neuen Ungleichheiten und neuem Missbrauch führt -, sondern um die Sozialisierung von Verantwortung.
Das Ziel einer neuen gesellschaftlichen Moral besteht darin, die Bürger unserer Demokratie rechtlich, politisch und sozial besser an den Staat zu binden. Auf der anderen Seite brauchen sie mehr Freiheiten, um sich auch unabhängig vom Staat zu organisieren
und den sozialen Zusammenhalt und die Selbstverantwortung zu stärken. Geschickte Motivations- und Belohnungssysteme können dabei helfen, Teilhabe und Mitbestimmung attraktiver zu machen, so dass sich mehr Menschen für die Geschicke der anderen verantwortlich fühlen.
Zweifellos geht dies nur, wenn bestehende gesellschaftliche, politische und juristische Strukturen verändert werden. Doch welche Instanzen müssen gestärkt, welche verringert werden?
• Stadt, Land, Staat. Welchen Horizont brauchen wir?
Stadt, Land, Staat
Welchen Horizont brauchen wir?
»Einer der schönsten Rathausbalkone, die es gibt.« Torsten Albig tritt auf die Waschbetonterrasse. Man blickt auf rote Klinker. »Aber zugegeben, ich war auch noch auf keinem anderen.« Der kahlköpfige Mann im blau-weiß gestreiften Hemd ist kein Architekt. Er ist Berufspolitiker und doch wieder nicht. Er war Landesfinanzschulleiter in Malente und in Frankfurt Konzernsprecher einer großen Bank. In Berlin saß er im Leitungsstab des Finanzministeriums, war Ministerialdirektor und Pressesprecher und überlebte drei sozialdemokratische Minister. Seit letztem Sommer ist der 47-Jährige Oberbürgermeister in Kiel.
In dieser Zeit hat Albig gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Dass es den Kommunen in Deutschland schlechtgeht, hat er auch vorher gewusst. Aber dass die Lage so schlimm ist, das begreift man erst, wenn man es erlebt. Wenn man tagtäglich durch die Stadt geht und hinter die Kulissen sieht, die Schlaglöcher auf den Straßen zählt, wahrnimmt, wie es auf den Schultoiletten riecht. »Was wir hier sind«, sagt Albig, »ist ein gesellschaftliches Endlager für Probleme, der Stollen, in dem die Politik ihre ganze kontaminierte Brühe versteckt.«
Wie so viele deutsche Städte, so hat auch Kiel seit Anfang der 1970er Jahre keinen ausgeglichenen Haushalt mehr. Die Gewerbesteuereinnahmen sind fast kontinuierlich zurückgegangen, die Sozialausgaben sind explodiert. Die Stadt sitzt in der Schuldenfalle. 500 Millionen Euro Kassenkredite und 400 Millionen Euro langfristige Schulden drücken auf den Etat; Rettung
ist nicht in Sicht. Und die Probleme werden immer größer. Viele Schulen müssen dringend saniert werden, aber das Geld fehlt. Ein einziges Stadtviertel mit 30 000 Einwohnern verschlingt jedes Jahr 100 Millionen Euro für Langzeitarbeitslose und Sozialfälle. Ein Zehntel eines jeden Schülerjahrgangs verlässt die Schule ohne Abschluss und kostet möglicherweise bis ans Lebensende 80 Millionen Euro im Jahr, Jahrgang für Jahrgang. Mit diesem Geld ließen sich jedes Jahr ein großes Schulzentrum bauen oder vier
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