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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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oder die Sicherung eines Kindergartenplatzes jeweils erhebliche geldliche Aufwendungen erfordern, wo früher Wohlverhalten gegen diese Leistungen getauscht wurde.« 6
    Eine neue Belohnungskultur, die die intrinsische Motivation weckt, ist mehr als nur psychologische Kosmetik. Vermutlich ist sie unverzichtbar, wenn es darum geht, sich auf die neue Arbeitswelt der Zukunft einzustellen. Doch wie weckt man intrinsische Motivationen?
    Dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft »von sich aus« ganz genau wissen, was sie wollen, ist vermutlich eine Legende. Wahrscheinlicher ist, dass viele nicht genau wissen, was
sie wollen, bevor man ihnen eine Vorstellung davon gibt und ihre Phantasie kanalisiert. Nicht ohne Grund legen Spielzeughersteller in der Vorweihnachtszeit ihre Kataloge als Beilagen in die Zeitungen, um bei Kindern Begehrlichkeiten überhaupt erst zu wecken. Nicht anders verhält es sich oft bei Erwachsenen. Eine Bedarfsweckungsgesellschaft lenkt die Phantasie auf immer neue Dinge und erfüllt Wünsche, die es zuvor gar nicht gab. Auch soziale oder moralische Begehrlichkeiten funktionieren nach diesem Muster. Das Lebensziel, bis ins hohe Alter romantisch geliebt zu werden, ist keine Idee abseits von kulturellen Leitbildern. Vielmehr ist sie ein (oft utopisches) Programm unserer westlichen Gesellschaft seit nicht einmal hundert Jahren. Und auch die kulturell manipulierte Idee, Erfüllung im Heldentod zu finden, vernebelte im Dritten Reich oder in einigen islamistischen Gruppierungen vielen Menschen den Verstand so sehr, dass sie sie für eine intrinsische Motivation hielten und halten: »Ja, ich will das!«
    »Die Menschen« sind viel anpassungsfähiger, als sich viele Politiker dies aus Angst vor den kurzfristigen und lauten Reaktionen von Boulevardmedien oft vorstellen können. Denn unsere materiellen und sozialen Bedürfnisse lassen sich nur im Zusammenhang verstehen. Und veränderte Zusammenhänge begünstigen ein anderes Fühlen und Denken. Selbst unser völlig überzogenes Statusdenken ist nicht ein Teil unserer Natur, sondern das Produkt täglicher Indoktrination durch Reklame. Werbung ist der Gottesdienst unserer Welt, das ritualhafte Einschwören darauf, etwas zu kaufen. Wie sollen Menschen unter solchen Bedingungen herausfinden, was sie wollen und was sie wirklich brauchen? »Ihnen geht es wie denen, die seit frühester Kindheit nur geschmacklich verfälschte Nahrungsmittel verzehrt haben - zu süß, zu salzig, ›geschmacksverstärkt‹ - und die nunmehr die feinen Nuancen naturbelassener Produkte nicht mehr schmecken können. … Ihr Konsumverhalten - das ›was‹ und das ›wie viel‹ - wurde ihnen anerzogen. Sie sind das Produkt von
Prägungen, die sie von Dritten erhalten haben und die so oder anders sein könnten.« 7
    Ob ich meine Energie und meinen Wunsch nach Erfüllung darein setze, ein teures Auto zu fahren oder einen Platz mitzugestalten, ist nicht schlicht eine Frage von mehr oder weniger egoistischer Veranlagung. Vielmehr ist es ein Produkt meiner Erziehung und meines Umfeldes. Sozialverhalten und moralische Gruppenstandards sind das Ergebnis von »Ansteckungen«, die mich oft nur vermeintlich »aus mir selbst heraus« motivieren.
    Mehr als alles andere ist die Förderung intrinsischer Motivationen deshalb eine Aufgabe unserer Schulen und unseres Bildungssystems. Ob ein Kind Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen oder alle europäischen Hauptstädte benennen kann, die Kirchhoff’schen Regeln kennt oder einen Daktylus von einem Trochäus unterscheidet, ist völlig belanglos im Vergleich zu der Fähigkeit, sich seine Neugier zu erhalten und sich im Leben zu etwas Eigenständigem zu motivieren. Dagegen funktioniert unser Schulsystem nach dem verhängnisvollen Schema von Felix Warnekens und Michael Tomasellos Versuchen mit Kleinkindern (vgl. Im Netz der Spinne. Was Geld mit Moral macht). Wer eine Schranktür öffnet, bekommt so lange eine Belohnung, bis er die Tür nur noch öffnet, um eine Belohnung zu kriegen. Die Belohnung in den Schulen sind die Zensuren. Und so wie man in der Schule extrinsisch für Zensuren arbeitet, arbeitet man später im Berufsleben extrinsisch für Geld. Die wahrhaft wertvollen Mitglieder einer Gesellschaft jedoch sind die intrinsisch motivierten. Und ein beträchtlicher Teil von ihnen wird fatalerweise frühzeitig aussortiert.
    Die extrinsische Motivation, berufliche Anstrengungen nach der Menge des Geldes zu bemessen, ist auch deshalb so gefährlich, weil

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