Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
freilich nicht getan. Um die neue Bürgergesellschaft auf die veränderten Lebensbedingungen der Zukunft einzustellen, müssen viele Bereiche des Lebens neu organisiert werden, die Belohnungssysteme für gesellschaftliche Akzeptanz ebenso wie der Fiskus, die Arbeitswelt oder die Familie …
• Glückliche Steuerzahler. Vom Umgang mit Belohnungen
Glückliche Steuerzahler
Vom Umgang mit Belohnungen
Der zuständige Beamte beim Finanzamt hat mir noch nie einen Kaffee angeboten. Wir kennen uns nicht einmal, haben uns noch nie gesehen. Meine Steuern zahle ich nach Termin und den wenig freundlichen Aufforderungsbriefen des Amtes. Das Finanzamt ist Teil des Staates, in dem ich lebe. Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland sind nicht etwas Böses, Finsteres und Diktatorisches. Sie sind die Repräsentation ihrer Bürger, von Menschen also wie Sie und ich.
Die meisten Bürger, die zu den sogenannten Besserverdienern gehören, haben kein entspanntes Verhältnis zum Finanzamt. Einmal ärgern sie sich über die hohen Beträge, die sie abführen müssen. In Deutschland liegt der Spitzensteuersatz bei 45 Prozent. Das ist nahezu die Hälfte des Verdienstes. Zum anderen betrifft es die Art und Weise, wie das Finanzamt, also der Staat, sie behandelt. Besserverdienende sind häufig Selbstständige und müssen ihre Steuern im Voraus bezahlen. Die Schätzung macht ein ihnen unbekannter Finanzbeamter.
Wie hoch die Schätzung ausfällt, berechnet das Amt; der Steuerzahler selbst wird nicht gefragt. Da sitzen nicht zwei Menschen beieinander, geben sich die Hand, überlegen, scherzen und beratschlagen. Da greift eine kalte Macht von oben anonym und autoritär ans heiße Portemonnaie. Eine Bank, die so mit ihren Kunden umginge, wäre längst pleite. Die meisten Selbstständigen, erst recht die Besserverdienenden, hassen ihre Steuerbescheide, verachten das Finanzamt, schimpfen auf den Staat, suchen nach
Schlupflöchern und wählen eine Partei, die ihrer offenkundigen Seelenpein Linderung verspricht.
Ein Verhalten des Staates, das seine Bürger gegen ihn aufbringt, ist weder intelligent noch geschickt. Vielmehr erscheint es als eine der letzten Bastionen ungeschminkten Preußentums, ein überkommener Rest obrigkeitsstaatlicher Machtdemonstration. Und die verbreitetste Form des Umgangs der Steuerbehörde mit dem Steuerzahler ist nicht Vertrauen, sondern Misstrauen - häufig der Beginn einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: aus Misstrauen wird Abneigung. Die Abneigung wiederum begünstigt Steuerflucht und Betrug. Und der gleiche Staat, der den Wohlstand seiner Bürger sichert, die Ausbildung seiner Kinder garantiert und sich um ihre Sicherheit auf der Straße und anderswo kümmert, wird zum Feind. »Der Staat ist nicht die Lösung, er ist das Problem«, dichtete schon ein Redenschreiber Ronald Reagans in den 1980er Jahren.
Was läuft hier schief? Als der französische Schriftsteller und Utopist Louis-Sébastien Mercier (1740-1814) sich im Jahr 1771 ausmalte, wie die Menschen in Westeuropa im Jahr 2440 leben könnten, da dachte er nicht nur an eine moderne Infrastruktur, an reparierte Seine-Brücken in Paris, an moderne Krankenhäuser und Universitäten, einen zollfreien europäischen Binnenmarkt und eine auf das Allernötigste verkleinerte Armee. Er dachte auch dran, dass ein jeder Bürger in diesem fürsorglichen und gerechten Staat gelassen und gerne seine Steuern zahlt. 1
Von den Prophezeiungen Merciers ist dies die einzige, die offensichtlich eine Utopie blieb. Die gesellschaftliche Wertschätzung des Steuerzahlens erscheint ebenso gering wie die gefühlte Wertschätzung des Steuerzahlers durch die Behörden. Wirtschaftspsychologisch betrachtet läuft hier nahezu alles schief. Wer etwas gibt, der wünscht sich dafür in der Regel Dank oder Anerkennung als Lohn, selbst dann, wenn diese Gabe nicht freiwillig erfolgt. Sowohl die Verkäuferin wie der Kunde im Geschäft bedanken sich aus guten Gründen wechselseitig beim
Brötchenkauf. Auch der Staat hat dies in vielerlei Hinsicht verstanden. Unsere Polizei ist alles in allem viel netter als noch vor zwanzig Jahren. Anonymität und Kasernenton sind einem meist freundlichen Umgang gewichen.
Gesellschaftlich betrachtet besteht die Kunst, keine Egoisten zu züchten, darin, die positiven sozialen Instinkte der Menschen anzusprechen. Eigensinn lässt sich verstärken oder abschwächen, je nachdem, welche Rahmenbedingungen die Gesellschaft schafft. Auch Wirtschaftspsychologen wie
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