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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Echo. Traditionell wird bürgerschaftliches Engagement besonders stark von der FDP und den GRÜNEN unterstützt und von der SPD und den Linken am argwöhnischsten betrachtet. Das Gegenargument besorgter Sozialdemokraten und der Linkspartei lautet: Politiker und Parteien, die mehr bürgerschaftliches Engagement fordern, drücken sich um ihre soziale Verantwortung. Statt die Bürger freiwillig in die Pflicht zu nehmen, fordern »linke« Parteien höhere Steuern und größere Sozialetats.
    Die erste größere Diskussion um die Frage entstand bereits in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit dem neuen Wort »Kommunitarismus«. Führende US-amerikanische Philosophen wie Charles Taylor, Michael Sandel oder Alasdair MacIntyre hatten es zuvor geprägt. Seinem Ursprung nach ist der »Kommunitarismus« ein Gegenentwurf zu den Überlegungen des liberalen Philosophen John Rawls. 8 Wie gezeigt (vgl. Die Katze des Yogis. Ist Moral überall gleich?), lehnen Rawls’ Kritiker es ab, Moral auf abstrakte Prinzipien zurückzuführen. Ihr Kerngedanke lautet stattdessen: Moral ist ein durch und durch soziales Phänomen, geprägt durch ein konkretes Umfeld. Haben Taylor, Sandel und MacIntyre Recht, so besteht die Aufgabe der Gesellschaft darin, moralische Milieus zu schaffen und Fürsorge und Engagement durch »Ansteckung« zu verbreiten.
    In der Zeit seiner Entstehung in den 1980er Jahren war der Kommunitarismus eine Gegenbewegung zur Gesellschaftspolitik der Regierung Ronald Reagans, einem nahezu bedingungslosen Wirtschaftsliberalismus. Die Sozialausgaben wurden dramatisch
gekürzt, und der Markt sollte alles regeln. Die Kosten für das Gemeinwohl waren unübersehbar. Während die Reichen reicher wurden, wurden die Armen ärmer. Gegen diese Kultur des Egoismus stellten Sandel, Taylor und MacIntyre die Tugendethik des Aristoteles. Sie appellierten an den Gemeinschaftsgeist, an den gesellschaftlichen Zusammenhalt und forderten einen »sozialen Patriotismus«.
    In Deutschland allerdings wurde die Debatte ganz anders aufgenommen. Der Grund dafür ist die völlig unterschiedliche staatsbürgerliche Kultur in der Bundesrepublik und in den USA. Viele Aufgaben, die in den Vereinigten Staaten von Bürgern mit »republikanischen Tugenden« übernommen werden müssen, regelt bei uns auf ziemlich vorbildliche Art und Weise der Sozialstaat. Von dieser Warte erschien der Kommunitarismus bei uns in einem zunächst geradezu gegenteiligen Gewand als in den USA. Statt als Bürgen einer umfassenden Solidarität betrachtete man ihn als einen Angriff auf das staatlich garantierte Solidaritätsprinzip. Kommunitaristen - das waren in den Augen ihrer deutschen und auch französischen Kritiker Bildner von elitären Cliquen mit einem Verantwortungsgefühl von begrenzter Reichweite; ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert in die Zeit vor Bismarcks Sozialgesetzgebung - eine Epoche, die die USA bis heute noch nicht wirklich überwunden haben.
    Angesichts der gegenwärtigen und erst recht der zukünftigen Probleme unserer Gesellschaft erscheint diese Freund-Feind-Stellung als überholt. Wer heute an den »sozialen Patriotismus« der Bürger appelliert, der möchte nicht den Sozialstaat zurückbauen oder die Steuern der Besserverdienenden senken. Kommunitarismus und Steuererhöhungen sind kein Widerspruch. Jede Sozialleistung, die der Staat noch gut und ordentlich bringen kann, ist und bleibt ein Gewinn. Die Frage ist nur, wie viele dies in zehn oder zwanzig Jahren noch sein werden. Man sollte die Diskussion über ein Mehr oder Weniger an Staat nicht weiter so führen, als hätte man es hier mit allzu vielen Optionen zu tun. Ähnlich
wie bei der Diskussion um das Wirtschaftswachstum geht es schon lange nicht mehr darum, ob man das will - sondern darum, was in Zukunft überhaupt noch möglich sein wird.
     
    Eine Gesellschaft, deren materielles Wachstum nicht weiter fortschreitet und auch nicht fortschreiten darf, muss sich in wesentlichen Punkten umorganisieren. Formen des Engagements wie Selbsthilfe und freiwillige Kooperation bekommen dadurch einen ganz neuen Stellenwert. Anstelle des materiellen Egoismus, wie er in Deutschland seit den Tagen des Wirtschaftswunders, erst recht aber seit den 1980er Jahren eingeimpft und eingeübt wurde, muss ein sozialer Patriotismus treten. Er appelliert an unseren sozialen Instinkt, das Verantwortungsgefühl für die »Horde«, der man sich zugehörig fühlt.
     
    Mit nachbarschaftlicher Hilfe und sozialem Engagement allein ist es

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