Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
»überfällige« Diskussion über die Zusammenlegung von Bundesländern endlich zu beginnen. Auch er hält eine Neugliederung schon aus ökonomischen Gründen für erforderlich. 2
Um den Ernst der Lage zu verstehen: Bei der Frage nach den Bundesländern handelt es sich nicht um eine akademische Diskussion, um juristische Gedankenexperimente oder um den Sinn bundeslandsmannschaftlicher Folklore. (Man kann noch immer saarländischer Meister im Kegeln werden!) Vielmehr ist es der Versuch, ein leckgeschlagenes Schiff vor dem Untergang zu bewahren!
Ein Blick in die deutschen Städte, etwa im Osten der Republik, belehrt auf erschreckende Weise darüber, was seit Jahrzehnten schiefläuft. An allen Orten geht der qualifizierte Einzelhandel zurück. Wo früher Mittelständler ihre Geschäfte führten, finden sich globale Firmen mit ihren Ladenketten. Und die Stadtväter und Stadtmütter ködern jeden obskuren Großinvestor mit günstigen Bedingungen und verkaufen ihm ihr Tafelsilber in der verzweifelten Hoffnung auf Gewerbesteuern.
Die Folge sind unsere seelenlos selbstverbauten Innenstädte
mit ihren Mega-Kaufhäusern, Ramsch-Stores und Fastfood-Läden und ihrem nahezu ausgerotteten Einzelhandel. Wo in den 1960er Jahren eine individuelle Stadtkultur blühte, sieht heute fast jede Stadt aus wie die andere mit ihrem Disneylandpflaster, ihren Blumenkübeln aus Waschbeton, ihren ungezählten Apotheken und ihren Gerüchen nach Backfisch, Parfüm und Bratwurst. Drumherum aber vergammeln die Schulen, werden Freizeiteinrichtungen geschlossen und wachsen die sozialen Ghettos. Haben wir das alles genau so gewollt? Sehen wir darin Sinn und Schönheit, Freude und Lebensqualität? Oder ist dies die desaströse Folge einer Fehlentwicklung im Würgegriff multinationaler Großinvestoren, das Ergebnis von Konkurrenz und Erpressung? 3
Die Welle des »Neoliberalismus« der letzten zwanzig Jahre hat unsere Kommunen geradezu überrollt. Oft hilflos und überfordert sahen sich die Stadtväter und -mütter mit der Idee eines »New Public Management« konfrontiert, die sie im Grunde kaum verstanden. Clevere Unternehmer boten ihnen an, ihre Haushaltslage und Bilanzen zu verbessern durch Kommerzialisierungen, Privatisierungen und Teil-Privatisierungen. Dass die Städte dabei häufig über den Tisch gezogen wurden, wie die Bürger der ehemaligen DDR beim Nachwende-Kauf von Rheumadecken und Lebensversicherungen, steht heute wohl außer Frage. Naiv verfielen sie der allgemeinen Stimmung, dass private Unternehmen gleichsam von Natur aus alles besser könnten, was vorher Beamte und Angestellte der Stadt gemacht hatten. In ihrem verunsicherten Selbstbewusstsein bewiesen sie ihre unternehmerische Inkompetenz dann tatsächlich durch zum Teil abenteuerliche Verträge mit mehr oder weniger windigen Unternehmen, ohne sich über die finanziellen und vor allem aber sozialen Folgen dieses Ausverkaufs Gedanken zu machen. Wie eine lästige Eiche, die einer Schnellstraße im Weg steht, fällten sie im Eiltempo das über mehr als hundert Jahre gewachsene Ethos des Beamten und Staatsdieners. Und mit ihm einen beträchtlichen
Teil an allgemeiner Verantwortung. Ein Teufelskreis entstand, der zur selbsterfüllenden Prophezeiung geriet. Denn wenn staatliche Institutionen, Regierungen und Kommunalverwaltungen »immer mehr Aktivitäten an private Unternehmer auslagern, verlieren ihre Beamten tatsächlich die Kompetenzen in den Bereichen, für die nun private Firmen zuständig sind, in Feldern, auf denen bislang niemand die Kompetenz der Staatsdiener in Frage stellte. Wenn sie zu bloßen Maklern werden, die zwischen öffentlichen Auftraggebern und privaten Auftragnehmern vermitteln, gehen das professionelle und das technische Wissen an Letztere über.« 4
Heute, zwanzig Jahre nach dem Beginn dieser bedenklichen Entwicklung, erkennt man, worum es sich beim »New Public Management« tatsächlich handelte: um einen Anschlag auf das Bürgertum. Und die alten falschen Freund-Feind-Linien von »Rechts« und »Links« sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Kommerzialisierung vieler öffentlicher Aufgaben ein Grundprinzip bedroht ist, auf dem unsere bürgerliche Gesellschaft steht: dass nämlich jeder Bürger in unserem Land ein garantiertes Grundrecht auf Leistungen hat, die schon im 19. Jahrhundert aus guten Gründen nicht der Logik des Marktes ausgesetzt worden sind. So wie man das Recht nicht kaufen oder ersteigern muss, bei der Wahl ein Kreuzchen zu machen,
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