Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
wechselseitigen Hilfestellungen entwickelte sich ein vielfältiger gemeinsamer Erfahrungsraum. Dieser machte eine komplexe Sprache notwendig. Und die Sprache wiederum beeinflusste maßgeblich unser Sozialverhalten und förderte unser Gehirnwachstum.
Jerisons Hypothese wird heute von vielen (wenn auch nicht von allen) Wissenschaftlern geteilt. Ihre ausführlichste Ausarbeitung
fand sie in den 1990er Jahren durch Terrence Deacon, heute Professor für biologische Anthropologie und Neurowissenschaften an der University of California in Berkeley. 7 Die älteren Theorien, wonach das Gehirnwachstum unserer Vorfahren vor allem auf den Werkzeuggebrauch oder auf den Verzehr von Fleisch zurückzuführen sei, sind inzwischen in den Hintergrund getreten. Sie müssen nicht völlig falsch sein. Aber möglicherweise spielten Technik, Jagd und Nahrungsumstellung nicht ganz die Hauptrolle, die man ihnen früher gerne zuschrieb.
Alles in allem bleibt es auch heute noch ein Rätsel, warum sich die Größe des menschlichen Gehirns in der Zeit von vor zwei Millionen bis vor etwa 400 000 Jahren ungefähr verdreifachte. Doch unter den vielen Umständen, die dies begünstigten, könnten unser Sozialverhalten, unsere Sprache und Moral tatsächlich eine wichtige Bedeutung haben. Aus dieser Sicht betrachtet hat das Wort »Menschlichkeit« einen ganz besonderen Sinn. Es bringt unsere biologische Gattungsbezeichnung und unsere Fähigkeit zur Moral untrennbar zusammen. Ein Mensch zu sein bedeutet demnach tatsächlich, ein grundsätzlich moralisches Lebewesen zu sein.
Die Entwicklung der menschlichen Intelligenz und die Entwicklung unseres Sozialverhaltens lassen sich nicht trennen. Je mehr unterschiedliche Absichten und Interessen unsere Vorfahren entwickelten, umso kooperativer scheinen sie geworden zu sein. Von einem bestimmten Punkt an regelte die Lautsprache dieses komplizierte Spiel, indem sie bestimmte Typen von Botschaften festlegte. Wann und wo dieser Punkt lag, ist bis heute unbekannt.
Bis vor etwa 15 Jahren hatten viele Sprachforscher angenommen, die Lautsprache sei eine sehr junge Errungenschaft des Menschen. Ihr Anhaltspunkt waren die Erkenntnisse des englischen Sprach- und Neurowissenschaftlers Philip Lieberman. 8 Dieser hatte in den späten 1960er Jahren erklärt, dass Neandertaler noch ebenso unbegabt zum Sprechen gewesen seien wie Schimpansen. Die Lage des Kehlkopfes und der Zunge blockierten
demnach jede differenzierte Lautäußerung. Doch Liebermans Vermutungen sind inzwischen widerlegt. Kehlkopf und Zunge verhindern nicht, dass Schimpansen differenziert sprechen. Als wichtigstes Indiz für den menschlichen Vorteil gilt heute die Technik, mit der wir beim Sprechen unseren Atem kontrollieren. 9 Eine Kunst, die anderen Affen ganz offensichtlich nicht zur Verfügung steht. Doch wann genau wir solche Atemkünstler geworden sind - darüber müssen wir bis heute spekulieren.
Ob schon seit zwei Millionen Jahren oder erst seit einigen zehntausend - mit ihrer differenzierten Sprache können Menschen nicht nur Meinungen äußern, sondern sie können sie auch wechseln. Dass Tiere unterschiedliche Perspektiven auf ein und denselben Gegenstand (von Ansichten nicht zu reden) werfen, wird selbst von jenen Wissenschaftlern nicht angenommen, die die Intelligenz von Tieren eher optimistisch bewerten. Auch Lügen wird durch die Lautsprache ungemein erleichtert. Es ist gemeinhin viel leichter, mit Worten zu lügen als mit Gesten. Ob das Lügen allerdings erst durch den Menschen in die Welt kam, wie etwa Tomasello vermutet, lässt sich bezweifeln. Andere Verhaltensforscher halten dagegen, dass sich Krähen bewusst gegenseitig täuschen und Schimpansen einander durchaus mit Gesten »belügen«.
Die Sprache verschafft uns die ausgezeichnetsten Möglichkeiten, uns auszudrücken und Meinungen zu bilden bis hin zu den speziellen Künsten der Selbstdarstellung, der Täuschung und der Selbsttäuschung. Unsere Vorfahren benötigten Jahrmillionen, um diese Fertigkeiten auszubilden. Ein menschlicher Säugling dagegen braucht heute nur noch etwa zwei Jahre, in denen er all das intuitiv lernt, was er später für seine vielen differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten braucht. Die Kunst, die dem zugrunde liegt, ist in höchstem Maße beeindruckend. In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres und im zweiten Lebensjahr lernen wir, unsere frühkindlichen Emotionen in Denkleistungen zu übersetzen.
Die Voraussetzung dafür ist der geteilte Erfahrungsraum
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