Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Wirtschaftsforschung an der Universität
Zürich und ständiger Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), der führenden Technikschmiede der USA. Seit zwei Jahrzehnten beschäftigt sich Fehr mit der Frage, wie tief das Gefühl der Gerechtigkeit im Menschen verankert ist. Ist es Teil seiner Natur oder später anerzogen? Und wie weit reicht unser Gerechtigkeitssinn? Schon in seiner Studienzeit an der Universität Wien ging es Fehr um die Gerechtigkeit in der Welt. Er begeisterte sich für die Befreiungstheologie in Lateinamerika, liebäugelte mit einem Theologiestudium und gründete eine Gruppe namens »Roter Börsenkrach«. 6 Als Professor ersann Fehr mit seinen Mitarbeitern zahlreiche Experimente, um dem Phänomen und den Tücken unseres Gerechtigkeitssinns auf die Schliche zu kommen.
Bei einem ihrer Versuche verteilten die Forscher Süßigkeiten an 229 Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren. 7 Sie forderten die Kinder auf, ihre Portionen mit jeweils einem anderen Kind zu teilen. Dieses andere Kind war dabei nicht im Raum, sondern nur auf einem Foto zu sehen. Wie würden die Kinder teilen? Würden sie alles oder das meiste für sich behalten? Oder würden sie »gerecht« teilen und dem abwesenden Kind die Hälfte abgeben? Nun, das Ergebnis war auffallend verschieden. Die drei- bis vierjährigen Kinder behielten ihre Süßigkeiten fast ausnahmslos »selbstsüchtig« für sich. In der Gruppe der Fünf- bis Sechsjährigen teilte etwa jeder Fünfte seine Schätze mit dem Kind auf dem Foto. Mit sieben bis acht Jahren dagegen teilte fast die Hälfte der Kinder gerecht und machte mit dem abwesenden Kind »halbe-halbe« - ein Ergebnis, das auch mit dem bei Erwachsenen übereinstimmt.
So weit das Ergebnis. Doch was ist die Schlussfolgerung? Bedeutet Fehrs Experiment, dass sich mit der allmählichen Zunahme des Gerechtigkeitssinns zwischen vier und acht Jahren ein gleichsam natürliches Programm abspult? Oder haben wir es hier mit den starken Einflüssen der Erziehung zu tun? Die Antwort ist vermutlich kein »Entweder-oder«, sondern ein »Sowohlals-auch«.
Ein Sinn für Gerechtigkeit findet sich in vermutlich jeder menschlichen Kultur, selbst wenn die Vorstellungen davon, was gerecht ist, nicht unbedingt identisch sein müssen. In manchen Kulturen werden für fast sämtliche Dienste Belohnungen erwartet, in anderen dagegen nur für manche. In manchen Kulturen werden geleistete Dienste vor allem mit Geld beglichen, in anderen durch Freundschaftsbeweise. In manchen Kulturen gilt es als gerecht, Männer und Frauen prinzipiell gleichgestellt zu sehen, in anderen nicht, und so weiter.
Wenn alle Kulturen der Gerechtigkeit einen Wert beimessen, so ist dies vermutlich mehr als ein Zufall. Doch auf welche Weise hat die Natur den Gerechtigkeitssinn bei uns implementiert? Die Frage ist gegenwärtig hoch umstritten. Die Vorstellungen der Experten umfassen die Idee von »altruistischen« Genen, von Belohnungssystemen für Gerechtigkeit im Gehirn und der Vorstellung einer »moralischen Grammatik«, die sich im Laufe unserer kindlichen Entwicklung nach und nach zu einer lebenden Sprache entwickelt.
Doch auch der Anteil der Erziehung dürfte nicht zu unterschätzen sein. Wenn Eltern, Kindergärtnerinnen und Lehrer Kinder frühzeitig für ein bestimmtes Verhalten loben oder tadeln, so bleibt dies selten ohne Wirkung. Ein durchschnittliches achtjähriges Kind weiß längst, dass Teilen etwas Gutes ist und dass gerechtes Verhalten fast immer geschätzt wird. Einflüsse dieser Art wirken darauf ein, wie ein Kind sich entscheidet. Zwar ist das komplizierte Zusammenspiel unserer Bewertungssysteme im Gehirn, unsere emotionalen Reflexe, unsere Gewohnheiten und unser zielgerichtetes Verhalten, schwer durchschaubar. Aber ohne jeden Zweifel wird all dies maßgeblich durch andere Menschen stimuliert, geprägt und trainiert. Autoritäten beeindrucken uns, schüchtern uns ein oder rufen unseren Widerspruchsgeist hervor. Geliebte Menschen haben einen anderen Einfluss auf unsere Psyche als ungeliebte. Und wer seinem Kind unermüdlich eindrillt, sich die Zähne zu putzen, »bitte« zu sagen oder etwas von seinem
Besitz abzugeben, hat eine gute Chance, dass der Schützling später als Gewohnheit erledigt, was anderen Menschen immer wieder neu einen mühsamen Willensbeschluss abnötigt.
Bei aller großen Bedeutung der Erziehung aber ist klar: Sie kann nur dort greifen, wo unser Gehirn eine entsprechende Struktur bereithält.
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