Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
irgendetwas nützen. Es gibt Menschen, die so etwas tun. Und es gibt Menschen, die es nicht
tun und auch niemals tun würden. All dies hat etwas mit unserem Selbstbild zu tun.
Lebewesen, die Absichten haben und die Absichten anderer erkennen können, kann der Blick der anderen auf das eigene Leben nicht egal sein. Im Gegenteil sind sie hochgradig davon abhängig. Der Blick der anderen ist ein zentrales Lebenselixier unseres Selbst. Auch das, was wir achten und was wir ächten, entspringt nicht nur unserer Natur, sondern auch unseren Prägungen durch andere und unseren Gedanken dazu. Und aus alledem entsteht unser Selbst- und Weltverständnis.
Woraus sich dieses Bild speist, ist allerdings alles andere als ein Lieblingsthema der jüngeren Moralphilosophie. Philosophen, die sich mit Moral befassen, wollen meistens lieber darüber entscheiden, was wir tun sollen und was wir besser lassen. Wir sollen andere achten und ihnen die gleichen Rechte zugestehen wie uns selbst. Und wir sollen nicht stehlen und morden. Die wenigsten aber stellen sich die Frage, was ein gutes Leben ist.
Der Unterschied zwischen beidem ist leicht benannt: Andere Menschen zu achten und keine Verbrechen zu begehen macht mein Leben noch lange nicht zu einem erfüllten Leben für mich selbst. Ich kann trotzdem zu dem Urteil kommen, dass mein Leben nicht gut war oder ist. Zum Beispiel, weil ich zu oft einsam bin, einen langweiligen Beruf habe, meine Zeit nicht gut genutzt habe, meine Interessen vernachlässigt oder nichts von Wert in meinem Leben geschaffen habe. Auch diese Fragen sind indirekte moralische Fragen, denn sie beeinflussen mein Selbstbild. Sie entscheiden mit darüber, als was für einen Menschen ich mich selbst betrachte. Mein Selbstverhältnis bestimmt mein Selbstbild, und dieses bestimmt mein Handeln.
Eine Moralphilosophie ohne Moralpsychologie bleibt blass. Wenn wir von einem guten Leben reden, so reden wir eben nicht nur von einem korrekten Leben, sondern auch von einem erfüllten Leben. Und selbst wenn das eine mit dem anderen manches zu tun hat, so geht ein erfülltes Leben noch lange nicht
in einem korrekten Leben auf. Das Netto unseres Handelns - die richtige oder falsche Gesinnung - reicht nicht aus, um uns selbst zu verstehen. Stattdessen müssen wir das Brutto in den Blick nehmen, einschließlich der vielfältigen Motive, Gelegenheiten und Selbstverständnisse, die unser Verhalten tatsächlich bestimmen. Der Mangel an diesem Brutto macht etwa Immanuel Kants Moralphilosophie zwar nicht falsch, aber doch ziemlich unsexy. Den Inhalt meiner Pflichten zu kennen macht mein Leben noch nicht gut.
Doch können Moralphilosophen über ein erfülltes Leben überhaupt etwas sagen? Vielleicht schon. So etwa können sie den Hintergrund beleuchten, vor dem ich meine moralischen Entscheidungen fälle. Sie können etwas über die moralischen Ziele erfahren, die ich mir setze. Und sie können versuchen herauszufinden, wie und warum wir in unserem Leben etwas moralisch sinnvoll finden oder eben nicht. All dies wäre nicht wenig. Denn je genauer ich diesen Hintergrund kenne, umso besser kann ich die moralischen Forderungen und Selbstansprüche auf meine Bedürfnisse abstimmen. Und möglicherweise hält mich dies von überzogenen und einseitigen Zumutungen ab wie die Aufforderung, in allen Belangen »vernünftig« oder »gut« sein zu müssen.
Wer erfolgreich an die Moral des Menschen appellieren will, muss diese sehr genau kennen. Einfach ist das nicht. Unsere moralischen Überzeugungen liegen keineswegs wohlgeordnet in ihren Schubladen oder folgen einer klaren Hierarchie. Mitunter sind sie dunkel und verborgen, uns selbst unklar, von Zufällen getragen, vorläufig und unbedacht. Häufig spielen biografische Ereignisse eine Rolle, wie etwa bei meiner Liebe zu den Tieren. Diese Ereignisse sind oft mit starken Gefühlen verbunden wie Liebe oder Bindung, Strafe und Angst. Sie hängen ab von besonderer Aufmerksamkeit oder von Menschen, die uns mit ihrem starken Willen absichtlich oder unfreiwillig beeindruckt und geformt haben.
Unser moralisches Selbstbild ist eine Folge starker Wertungen.
Denn Lebewesen, die Absichten haben und erkennen können, neigen dazu, diese zu bewerten. Unsere Werte und unser Umgang mit ihnen entscheiden maßgeblich darüber, was wir von uns selbst halten. Werden wir unseren eigenen moralischen Ansprüchen gerecht? Regt sich als Ausdruck des Zweifels unser schlechtes Gewissen? Können wir immer und nach allen unseren
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