Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
die auf nichts gründet als auf sich selbst, ist eines der gefährlichsten Gifte der Welt. Die Ehre ist das Geld der Armen; die maßlose Ehre der Großgrundbesitz der Armseligen.
Zusammenfassend gesagt besteht unsere Moral also aus vier Komponenten: aus dem intuitiven Moralgefühl, unseren Grundsätzen und Überzeugungen, aus der Sehnsucht nach einem erfüllten Leben und aus der Sorge um die Achtung, die man uns entgegenbringt. Diese Komponenten sind kein Kennzeichen nur unserer westlichen Kultur. Sie existieren überall, wo Menschen leben und gelebt haben. Die Gewichtung allerdings kann von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich ausfallen. Denn die inhaltlichen Vorstellungen von einem erfüllen Leben variieren stark. Und der vorherrschende Ehrbegriff in unserer westlichen Gesellschaft
muss nicht dem Ehrbegriff in Senegal entsprechen, in Afghanistan oder auf Samoa. Gleichwohl, so scheint es, kennt jede menschliche Kultur eine Vorstellung von Ehre. Prostitution zum Beispiel gilt in nahezu jedem Land gemeinhin als ehrlos (außer vielleicht in religiösen Kontexten wie den babylonischen »Tempelhuren« oder den japanischen Geishas).
In einigen Gesellschaften, wie bei den Helden der nordischen Sagenwelt, der japanischen Samuraikultur oder dem archaischen Griechenland des Dichters Homer, zählte die Ehre mehr als alles andere. Die vierte Stufe verschlang gleichsam die dritte, indem sie das erfüllte Leben gleichsetzte mit dem ehrenhaften. Ersetzt man die Ehre in der westlichen Welt zeitgeistgemäß mit Prominenz, so gilt diese Krieger- und Ehrenethik vielfach auch heute. Für Germany’s Next Topmodel, die Superstaraspiranten und viele ihrer Bewunderer erscheint das erfüllte Leben als das prominente: viel Sieg, viel Ehr. Ihre ständige Heimat findet die Kriegerehrenethik überdies in Diktaturen, vom Dritten Reich bis Nordkorea. Und natürlich auch in der Finanzwelt der Banker und Bankiers: Das erfüllte Leben ist das ehrenhafte Leben. Und die Ehre bemisst sich nahezu ausschließlich am Geld.
Genau diese Gleichsetzung der Stufen war es, die Platon, wir erinnern uns, gegen die Oligarchen seiner Zeit aufbrachte. Das Gute, so Platon, liegt nicht in kriegerischer Ehre und schnödem materiellem Verdienst. Das gute Leben ist eine Haltung, gespeist aus der genauen Kenntnis von der richtigen Rangfolge der Werte. Doch an ein solches auf ewig festgelegtes und unmissverständliches Ranking vermögen die meisten Menschen heute allerdings nicht mehr zu glauben. Geschweige denn, dass es all ihre Handlungen anleitete. Es gibt keine eindeutige Hierarchie und keinen festen Entwurf. Sie existieren weder in der Welt noch im Menschen.
Unsere Interessen, unsere Meinungen, unsere Werte und unser Verhalten müssen Tag für Tag vor unserem Selbstbild neu koordiniert werden. Unsere Ansichten und Bewertungen über uns
selbst und die Welt können sich stündlich ändern. Ein Kompliment lässt uns erstrahlen. Eine Kritik zieht uns runter. Eine Stimmung trübt unser Selbstbild. Eine andere lässt es in den schönsten Farben erstrahlen. Ein Mensch, der glücklich verliebt ist, verhält sich zumeist anders als sonst. Er fällt andere Entscheidungen und bewertet das Leben oft deutlich verändert. Die Umstände, die unser Leben bestimmen, sind so vielfältig und kompliziert, dass wir uns ständig neu orientieren müssen. Nur Tiere können immer ihrem Instinkt folgen, einem vernünftigen Menschen ist dies nicht möglich. Oder, mit dem Frankfurter Philosophen Martin Seel (*1954) gesagt: »Mit sich im Reinen sind nur die Doofen«. 1
Menschen sind die einzigen Tiere, die abstrakten Dingen einen Wert verleihen können und um diesen Wert wissen. Was wir erleben, ordnen wir nicht nur in einen Zusammenhang mit unseren Interessen, sondern wir beziehen es auch auf uns selbst. Unser Selbstbild zwingt uns dazu, unsere Handlungen zu begründen. Dabei liegen unsere Gründe nicht im Außen, sondern sie sind ein Teil dessen, was uns im Inneren zusammenhält. Sie sind der Klebstoff unseres Handelns. Indem wir uns unsere Gründe erzählen, sortieren wir unser Handeln zu einer Geschichte unseres Selbst.
Wenn es richtig ist, dass Menschen ihrem Selbstbild verpflichtet sind, was sagt mir das dann darüber, wie ich leben soll? Wie führe ich ein optimales Leben in einer unüberschaubaren Welt? Was könnte meine Richtschnur sein oder mein Leitbild?
• Freund meiner selbst. Was ein gutes Leben sein könnte
Freund meiner selbst
Was ein gutes Leben sein
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