Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
sprechen in diesem Zusammenhang vom social brain - dem »sozialen Gehirn«. 7 Wenn wir uns sozial wohl fühlen, erleben Tiere und Menschen
Ausschüttungen von Neuropeptiden wie Oxytocin und Vasopressin. Als Wohlfühlhormone sind sie Balsam für unsere Seele. Geraten wir jedoch sozial unter Stress, weckt dies Stresshormone wie Cortisol.
Schon in den 1950er bis 1970er Jahren machte der US-amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Harry Harlow eine Reihe grausamer Experimente. 8 Er isolierte neugeborene Rhesusäffchen von ihrer Mutter und ihren Angehörigen und entzog ihnen jeglichen sozialen Kontakt. Wie nicht anders zu erwarten, verkümmerten die Tiere psychisch und körperlich, sie wurden verhaltensgestört und sexuell anormal.
Unser Gehirn, so scheint es, ist durch und durch sozial programmiert. So etwa konnten Ernst Fehr und seine Mitarbeiter in Zürich zeigen, dass es für uns einen gewaltigen Unterschied macht, ob wir mit Computern kooperieren oder mit realen Menschen. 9 Spiele wie das Ultimatumspiel und das Vertrauensspiel zeigen in beiden Fällen ein unterschiedliches Ergebnis. Gehen wir mit Simulationen am Computer um, so handeln wir wesentlich rationaler und egoistischer. Haben wir es dagegen mit echten Menschen zu tun, bemühen wir uns viel mehr darum, fair zu sein. Bereits der Anblick von menschlichen Gesichtern stimuliert merklich unser Gehirn, und zwar sowohl von vertrauten Gesichtern wie von fremden. So gesehen ist es vermutlich kein biologisches Wunder mehr, dass wir auch beim Umgang mit Fremden die Spielregeln der Fairness einhalten, und zwar selbst dann, wenn wir annehmen dürfen, ihnen nicht wieder zu begegnen.
Der deutsche Hirnforscher und Spezialist für psychosomatische Medizin Joachim Bauer (*1951) von der Universität Freiburg sieht hierin die Grundlagen für ein völlig neues Menschenbild: »Nichts aktiviert die Motivationssysteme im Gehirn so sehr wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung und - erst recht - die Erfahrung von Liebe.« 10 Unsere Motivationsstruktur ist also keineswegs in erster Linie darauf
ausgerichtet, dass wir uns durchsetzen und uns Vorteile gegenüber anderen verschaffen. »Alle Ziele, die wir im Rahmen unseres normalen Alltags verfolgen, die Ausbildung oder den Beruf betreffend, finanzielle Ziele, Anschaffungen etc., haben aus der Sicht unseres Gehirns ihren tiefen, uns meist unbewussten ›Sinn‹ dadurch, dass wir damit letztlich auf zwischenmenschliche Beziehungen zielen, das heißt, diese erwerben oder erhalten wollen. Das Bemühen des Menschen, als Person gesehen zu werden, steht noch über dem, was landläufig als Selbsterhaltungstrieb bezeichnet wird.« 11
Schon der römische Philosoph Seneca hatte dies sehr genau erkannt: »Es kann niemand ethisch verantwortungsvoll leben, der nur an sich denkt und alles seinem persönlichen Vorteil unterstellt. Du musst für den anderen leben, wenn du für dich selbst leben willst.« Unterstützung für seine Sicht erhält er heute von den Hirnforschern Jorge Moll und Jordan Grafman von den National Institutes of Health. Sie sind sich ziemlich sicher, den Schlüssel zum »Guten« gefunden zu haben. Im Jahr 2006 veröffentlichten sie die Ergebnisse ihrer Experimente. 12 Sie hatten Studenten in den Kernspintomografen geschoben und sie aufgefordert, sich vorzustellen, sie erhielten einen großen Geldbetrag. Wie nicht anders erwartet, erhöhte sich die Blutzufuhr der Studenten im mesolimbischen System, dem sogenannten »Belohnungszentrum«. Es leuchtet auch dann auf, wenn jemand sich über Essen freut oder über Sex. In einer zweiten Versuchsreihe forderten die Forscher die Studenten auf, sich vorzustellen, sie spendeten den gleichen Betrag für einen wohltätigen Zweck. Auch diesmal erhöhte sich die Blutzufuhr im mesolimbischen System. Im Unterschied zum ersten Experiment aber kam noch eine zweite Region dazu: der subgenuale Cortex. Als Teil des präfrontalen Cortex ist er eine viel höher entwickelte Region des Gehirns, die nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Affen für soziale Aufmerksamkeit zuständig ist und für Zuneigung.
Wenn es sich für Menschen gut anfühlt, Gutes zu tun, so die
Forscher, dann sei das völlig natürlich. Altruismus ist keine nachträgliche Zutat in einem egoistisch veranlagten Gehirn, sondern ein zwingender Bestandteil unserer Grundausstattung, fest verdrahtet und ziemlich angenehm. Und selbst wenn Geben sich nicht
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