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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Handlungen beruhigt in den Spiegel schauen? Ein wichtiger Teil der Frage, ob unser Leben ein erfülltes Leben ist, wird auf diesem Feld beantwortet. Denn was nützen uns die größten Vergnügungen und Genüsse, wenn wir sie später bitter bereuen? Unsere Selbstachtung und unsere Ideale sind ein nicht zu unterschätzender Teil unseres Selbst. Auch wenn sie nicht der einzige sind.
    Unsere Selbstachtung trägt entscheidend dazu bei, dass wir unser Leben als lebenswert erachten. Ist sie beschädigt oder verloren, ist im Leben vermutlich nicht mehr viel zu gewinnen. Nur wenn wir zumindest halbwegs im Einklang mit dem leben, was wir für richtig und falsch, besser und schlechter, höher und niedriger halten, haben wir eine Chance auf ein glückendes Leben. Stärker als alle Lebensumstände, Zufälle und Schicksalsschläge kommt es darauf an: dass man sich selbst als Mensch für wertvoll hält. Und dass man sich seiner selbst als würdig erweist.
    Das Spannende an starken moralischen Wertungen ist, dass sie sich nicht, oder nur zum Teil, nach unserem Begehren und unseren Interessen richten. Unsere Triebe und Neigungen geben uns die Werte nicht vor. Aus der Sicht eines Soziobiologen ist das eigentlich eine sehr merkwürdige Sache. Denn sollten wir von Natur aus Egoisten sein und sonst nichts, so müssten unsere Triebe unsere Wünsche bestimmen, unsere Wünsche unsere Interessen und unsere Interessen unsere Werte. Doch davon kann oft nicht die Rede sein. Unsere Werte, so scheint es, führen ein sehr merkwürdiges Eigenleben. Statt Erfüllungsgehilfen unseres Begehrens zu sein, formulieren sie Maßstäbe, um unsere Neigungen und Wünsche zu beurteilen. So etwa ist es möglich, dass ich meine Triebe und mein Verlangen als »falsch« oder »schlecht« beurteile.
Ich verurteile meine Faulheit, ärgere mich über meinen Neid, halte meine Ess- und Trinkgewohnheiten für falsch oder bereue im Nachhinein die üble Nachrede über jemand anderen, zu der ich mich habe hinreißen lassen.
    Nun gut, könnte ein Soziobiologe einwenden, meine Werte dienen vielleicht nicht zwangsläufig meinem kurzfristigen Begehren. Aber zahlen sie sich nicht am Ende langfristig aus? Doch auch hier ist Skepsis angesagt. Ginge es nach meinen Genen, so ist jedes Treue- und Eheversprechen bitterer Verrat. Biologisch betrachtet zahlt sich die Monogamie - ein hoher Wert in unserer Kultur - weder kurzfristig noch langfristig aus. Ganz im Gegenteil torpediert sie meinen biologischen Lebenssinn, der darin bestehen soll, mein Erbgut so breit wie möglich zu streuen (zumindest für Männer). Der Vorteil, den ich aus der Treue gewinnen kann, ist also rein psychologischer und sozialer Natur.
    Ein moralisches Selbstbild mit starken Werten ist nicht notwendigerweise ein Lebensvorteil. So etwa befürchtet meine Frau zuweilen, dass das skeptische und kritische Selbst- und Weltbild unserer Kinder ihnen das Leben wohl nicht leichtmachen wird. Aber hatte sie eine andere Wahl, als jene Werte weiterzugeben, die sie ihnen tagtäglich vorlebt? So wichtig ihr das Wohl der Kinder ist, so alternativlos ist es zugleich, die Werte zu vermitteln, die man selbst für wichtig hält. Die Auswahl der Werte erfolgt also nicht vorrangig am Maßstab der mutmaßlichen Interessen der Kinder. Sondern das Wohl der Kinder wird integriert in das moralische Selbstbild.
    Unser moralischer Maßstab ist nicht identisch mit unseren praktischen Interessen. Es gibt gut verdienende Mittelständler, die gleichwohl die Linkspartei wählen, obgleich diese vor jeder Wahl ankündigt, den Spitzensteuersatz deutlich zu erhöhen. Ein anderes Beispiel sind überzeugte Katholiken, die die Forschung mit embryonalen Stammzellen ablehnen, obwohl sie ein erbkrankes Kind haben, das davon möglicherweise einmal profitieren
könnte. Gewiss, beide Beispiele sind heute eher Ausnahmen - zumal die Bindungen an Weltanschauungen in der westlichen Welt seit Jahrzehnten dramatisch nachlassen. Doch etwas davon findet sich vermutlich in jedem von uns. Die Zahl der Menschen, die in bestimmten Situationen ehrlich sind, obgleich sie von einer Lüge mehr profitieren würden, ist gar nicht so klein. Die Werte, die unser Selbstbild formen, sind zwar nicht unbeeindruckt von unseren Lebensumständen, aber sie sind gleichwohl keine stets getreuen Diener unseres Kalküls.
    Dass unsere Werte und unsere Interessen auseinanderklaffen können, ist soziobiologisch nicht erklärbar. Und unsere Achtung vor dem Menschenleben im Allgemeinen ist eben

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