Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Kinder sie glücklich machten. Glück, so das Fazit, ist weit mehr als die Summe seiner Teile. Und die Qualität bemisst sich nicht allein nach der Quantität.
Das menschliche Gehirn mag das erstaunlichste Lebewesen im Universum sein, aber es ist keine Rechenmaschine. Und Moral ist nicht die Summe einer Kalkulation. Wer, wie viele Soziobiologen, die Verantwortung für unser Handeln sozialen Intuitionen zuschreibt, der kann nicht gleichzeitig davon sprechen, dass wir unsere Moral exakt kalkulieren. Für diese Fähigkeit nämlich müsste das Gehirn mit dem schweren Diesel Vernunft angetrieben
werden und nicht mit der leichteren Essenz des Gefühls. Tatsächlich aber geht in unserem Gehirn Tag für Tag alles durcheinander. Gefühle und Vernunft durchkreuzen sich wechselseitig, motivieren und bekämpfen sich. Wir mögen noch so nüchtern über einen Menschen urteilen wollen, empfinden wir ein starkes Mitgefühl mit ihm, so ändert dies unsere Haltung. Kein Mensch ist ein absoluter Herr über sein Mitgefühl.
Unsere Gefühle, unsere Entscheidungen und moralischen Zwiespältigkeiten schlagen sich im Gehirn nieder. Was wir »Gefühl« nennen, wird ebenso elektrochemisch erzeugt wie das, was wir »Vernunft« nennen. Vielleicht kann der Verweis auf unser Gehirn uns die Frage beantworten, warum wir nicht immer kühl kalkulierende »reziproke Altruisten« sind, sondern auch einer fremden Katze aus einer Mausefalle helfen oder einem Unbekannten den Weg zeigen. Könnte es nicht etwa sein, dass der Lohn, den wir für eine gute Tat erwarten, viel mehr mit einer Belohnung im Gehirn zu tun hat als mit einer Belohnung durch jemand anderen?
Die Fülle an Beweisen, die Hirnforscher im letzten Jahrzehnt gesammelt haben, ist erdrückend: Unser Motivationssystem im Gehirn giert nach Belohnungen durch unsere soziale Umwelt. Für Koryphäen wie den Esten Jaak Panksepp (*1943) von der Washington State University und den US-Amerikaner Thomas Insel, Direktor des National Institute of Mental Health, sind soziale Anerkennung und positive Zuwendung der Stoff, aus dem unser Belohnungszentrum im Gehirn seinen nachhaltigsten Nektar zieht.
Panksepps eigentliches Forschungsgebiet war über mehr als zwei Jahrzehnte die Psychologie der Tiere. Er wollte ihre sozialen Emotionen erforschen. Besonders spannend erschien ihm das, was man sich nicht leichter Hand mit einer bestimmten Funktion erklären konnte. Er erforschte, warum Ratten lachen und was das mit dem Lachen von Menschen zu tun haben könnte. 3 Auf diese Weise brachte er es zu einer Veröffentlichung in
Science, einer der renommiertesten naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften, mit dem schönen Titel: »Jenseits des Witzes: Vom Lachen der Tiere zur menschlichen Freude«. 4
Alle höher entwickelten Tiere, so Panksepp, unterscheiden in ihrem Gehirn sechs wesentliche Gefühlszustände: Wollust/Sexualität, Panik/Trennung, Fürsorge/Pflege, Streben/Erwartung, Wut/Ärger und Spiel/Freude. 5 An ihnen entscheidet sich, ob ein höher entwickeltes Tier sich wohl fühlt oder nicht. Besonders interessant in unserem Zusammenhang ist, wie stark viele soziale Tiere darunter leiden, wenn sie von anderen getrennt und isoliert werden. Ein Jungtier, das von seinen Eltern verlassen wird, empfindet den Trennungsschmerz in seinem Gehirn nahezu ununterscheidbar wie einen körperlichen Schmerz. Nicht anders ist es beim Menschen. Auch Menschen erleben Trennungsschmerz körperlich. Zuneigung, Beachtung und Anerkennung dagegen sind die Lebensmittel unserer Psyche.
Das soziale Leben von höher entwickelten Tieren beeinflusst nicht nur ihre Psyche, sondern auch ihre Physis. Schon bei Fischen lässt sich beobachten, dass unterlegene Tiere, die ihr Territorium an Artgenossen verlieren, ihr Wachstum einstellen und sogar schrumpfen können. 6 In meinem Kölner Aquarium leben seit einigen Monaten zwei westafrikanische Schmetterlingsfische. Als Oberflächenfische teilen sie sich ein eineinhalb Quadratmeter großes Terrain mit vielen Schwimmpflanzen. Eigentlich müsste dies für die beiden unverträglichen Gefährten reichen. Doch der eine Fisch unterdrückt mit Macht den anderen. Und obwohl beide Tiere die gleiche Menge an Nahrung aufnehmen, entwickelt sich ihre Größe zusehends auseinander.
Was für das Dominanzverhalten von Fischen gilt, gilt in noch weit größerem Maße für das Sozialverhalten von höher entwickelten Tieren und Menschen. Thomas Insel und sein Kollege Russell Fernald von der Stanford University
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