Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
gerade nicht auf Grundlage eines evolutionär vorteilhaften Beschlusses zustande gekommen. Denn welchen praktischen Vorteil soll es bringen, Lebewesen außerhalb meiner Verwandtschaft und Horde zu achten? Meinen Genen tue ich damit gewiss keinen Gefallen. Profiteur ist nicht meine Biologie, sondern mein Selbstwertgefühl.
Menschen überlebten vielleicht nicht wegen, sondern möglicherweise trotz der Fähigkeit, tiefgreifend über sich selbst nachzudenken. Was auch immer der Grund war - ein Vorteil, ein Zufall oder eine unbeabsichtigte Nebenfolge -, wir sind vermutlich die einzigen Tiere, die in der Lage sind, Behauptungen darüber anzustellen, was sie sind und wie sie sein sollten. Nicht nur unser gefühltes Wollen treibt uns deshalb an, sondern auch unser ebenso gefühltes Sollen.
Jeder Mensch hat eine moralische Identität aus Antrieben, kulturellem Wissen und verinnerlichten Verhaltenscodes. Diese Macht des moralischen Selbstbildes ist von Mensch zu Mensch verschieden, aber sie ist gemeinhin gewaltig. Ob edler Geist oder Verbrecher, vor dem Tribunal seiner Selbstachtung und seinem Selbstwertgefühl ist niemand dauerhaft gefeit. Darüber hinaus leitet uns unser Selbstbild dabei, Menschen und Situationen zu beurteilen. Wir fragen danach, ob ein bestimmter
Mensch oder ein bestimmter Konflikt unsere Anteilnahme, unsere Zustimmung, unsere Bewunderung oder unsere Ablehnung verdient.
Unser Selbstbild und unser Selbstverhältnis werden dabei durch vieles beeinflusst. Wichtig ist die soziale Rolle, die wir spielen. Unsere Stellung in der Familie, im Beruf und im Alltag. Sind wir Chef oder Untergebener? Beides wirkt sich zwangsläufig auf unser Selbstbild und damit auf unser Verhalten aus. Sind wir Teil einer bestimmten sozialen Gruppe, einer Clique, eines Kreises? Sind wir Sportler, Computerfreak, Zen-Buddhist, Heavy-Metal-Fan, Anthroposoph, Fashionvictim, Nudist, Christ oder Schützenkönig? Oder definieren wir uns gerade umgekehrt als free spirit, der nirgends dazugehören will? Fühlen wir uns als Deutscher, Türke, Bayer, Kölner oder Düsseldorfer?
Eine andere wichtige Farbe in unserem Selbstbild ist die Position, die wir innerhalb dieser Gemeinschaften innehaben. Wie viel Aufmerksamkeit brauchen wir und fordern wir ein? Definieren wir uns stärker über die Liebe, Zuneigung und Zugehörigkeit zu anderen? Oder ist es uns wichtig, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen?
Auf den Respekt der anderen, wie auch immer er ausfällt, ist jeder angewiesen. Wir pochen auf unsere Würde und fürchten um unseren Ruf. Selbst der brutalste Killer zielt auf die Anerkennung seines Auftraggebers oder seiner Kumpane. Der Amokläufer will negative Zuwendung und den Respekt, den er zuvor nicht gekriegt hat. Selbst wenn es Menschen gibt, die gehasst werden wollen, weil sie an das Geliebtwerden nicht glauben wollen oder können, so handelt doch niemand zu dem Zweck, belanglos gefunden zu werden. Auch die fürchterlichsten Diktatoren und Verbrecher machen darin keine Ausnahme.
Unser Bild im Auge der anderen leitet unser Handeln mindestens ebenso stark wie jedes harte egoistische Motiv. Wer etwa glaubt nicht, dass der ehemalige Post-Chef Klaus Zumwinkel unter dem Verlust seines Ansehens weit mehr leidet als unter dem
Verlust einiger Millionen Euro, die er als Strafe für seine Steuerhinterziehung zahlen muss?
Die lockere Maxime »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert« erscheint nur den allerwenigsten Menschen erstrebenswert. Ein ruinierter Ruf, ein geringes Ansehen und ein Mangel an Respekt, mit dem man uns begegnet, setzen fast jedem Menschen zu. Kaum etwas anderes dürfte eine solche Plage sein wie der Minderwertigkeitskomplex von Menschen, die um ihre Achtung fürchten und deren mangelnde Selbstachtung sie zum Äußersten verleitet. Viel mehr als jeder schnöde Egoismus tyrannisiert er die Menschheit.
Man denke nur an all die vielen, vor allem Männer, die erwarten, dass andere von ihnen Erfolg erwarten. Im Falle ihres offensichtlichen Misserfolgs werden sie häufig zu einer gefährlichen Spezies. Neid, Hass, Missgunst, Aggression und billige Feindbilder sind viel seltener die Folge von hartem Egoismus als von einem gestörten Selbstwert. Nicht selten paart er sich mit einem übersteigerten Ehrgefühl. Auf je weniger sich meine Ehre stützt, umso schräger und pathetischer spreizt sie sich auf und umso leichter wird sie provoziert: durch einen Blick, eine Bemerkung, ein Lachen im falschen Moment. Eine Ehre,
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