Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
kein Problem damit, das Gute im Menschen zu preisen und seine zahlreichen Kinder ins Findelhaus zu geben. Und auch der große Sigmund Freud, der mehr über die sensible Psyche von Kindern wusste als viele seiner Zeitgenossen, zog eines seiner Kinder den anderen vor und zeigte sich bei familiären Aufgaben oft als Ausfall.
Was wir Charakter nennen, ist nicht die Illustration einer Eigenschaft, sondern ein Ensemble von Widersprüchen. Für das Bild, das wir von uns haben, die Moralagentur unseres Selbst, spielen Gefühle, Überlegungen und Umstände kaum zuverlässig berechenbar zusammen. Gute Laune lässt uns zum Beispiel oft großzügiger sein als schlechte, ohne dass wir deswegen sagen können, ob wir ein großzügiger Charakter sind oder nicht. »In diesem Spannungsfeld anziehender und abstoßender, entdeckter und verdeckter, genutzter und vertaner Möglichkeiten bewegt sich die bewusste Steuerung des eigenen Lebens. Durch diese nehmen wir Gelegenheiten zu uns selbst wahr. Wir bejahen
einige der Möglichkeiten, die uns gegeben sind, und richten uns von hier aus an solchen aus, die wir nach bester Überlegung erreichen oder erhalten wollen. Indem wir uns bestimmen, lassen wir uns bestimmen.« 3
So kühn, großartig, vernünftig und weitfliegend unsere Gedanken auch sein können, immer stehen sie in einem Zusammenhang mit unserer begrenzten Sinnlichkeit. Was ich im Augenblick nicht spüre, nehme ich nicht auf. Oder mit Arthur Schopenhauer gesagt: »Was das Herz nicht fühlt, lässt der Verstand nicht rein.« Doch was sind die Gesetze und Regeln unseres Herzens? Hat unsere moralische Intuition, die allem anderen vorausgeht, eine Logik? Fragen wie diese beschäftigen die Psychologie meist nur am Rande. Und erst seit kurzer Zeit gibt es einen kleinen Boom dabei, die seltsamen Intuitionen des Menschentieres in seinem Ego-Tunnel zu erforschen. Wie funktioniert unser moralischer Tastsinn? Einer der bekanntesten deutschen Forscher auf diesem Gebiet ist Gerd Gigerenzer (*1947), Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Für Gigerenzer bestimmt uns die Intuition weit mehr als etwa die Vernunft oder gar die Logik. Kein Mensch funktioniere wie eine Rechenmaschine. Weder wollen wir den maximalen Nutzen unserer Taten ausrechnen, noch sind wir überhaupt dazu in der Lage. Die Idee der Soziobiologen, wonach Menschentiere in ihrem Sozialleben immer ihren Nutzen kalkulieren, ist demnach nicht nur biologisch falsch. Sie widerspricht allen Einsichten in unsere Psychologie.
Auch für Gigerenzer haben Menschen uralte Filter, die ihnen helfen, die unübersichtliche Wirklichkeit kleiner und überschaubarer zu machen. Sie bieten Orientierungshilfen. Eine Gebrauchsanweisung für Tunnelbewohner sozusagen. Wir vergessen, schieben beiseite, konzentrieren uns auf das, was wir kennen, und verlassen uns auf Wiedererkennungseffekte. »Rekognitionsheuristik« nennt Gigerenzer diesen Mechanismus. Was wir kennen, darauf verlassen wir uns auch. Und was uns unbekannt ist, dem begegnen wir eher mit Skepsis.
»Lass das Denken, wenn du geübt bist - diese Lektion kann man getrost beherzigen«, meint Gigerenzer. Denn nur so können wir »uns auf die wenigen wichtigen Informationen konzentrieren«. 4 Auf diese Weise gibt uns unser Gehirn die Richtung vor. Wir entscheiden uns schnell, wenn wir wenig Auswahl haben. Und wir sind mit unseren Entscheidungen zufriedener, als wenn die Wahlmöglichkeit groß ist. Wir lesen Absichten in den Gesichtern anderer Menschen daraus, wie lange sie wohin schauen. Und wir schließen auf die Raumtiefe eines Objektes anhand der Länge seiner Schatten. Wenn Intelligenz das ist, was wir einsetzen, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen, dann benötigen wir für all dies wenig Intelligenz.
So weit, so richtig. Nur mit der positiven Bewertung, die Gigerenzer unseren Intuitionen gibt, sollte man vielleicht etwas vorsichtiger sein. Was uns beim Sport, beim Orientieren in einer fremden Stadt und bei Entscheidungen im Supermarkt weiterhilft, muss in unserem Sozialleben durchaus nicht immer vorteilhaft sein. Konzentrieren wir uns denn tatsächlich immer instinktsicher »auf die wenigen wichtigen Informationen«? Mitunter, so steht zu befürchten, richten wir unser Augenmerkt gerade auf die unwichtigen.
Unsere ganze Klatschpresse und unsere Boulevardmagazine - leben sie nicht davon, dass Menschen sich auf völlig Unwesentliches konzentrieren? Gehört zu unseren Instinkten nicht auch die für unser Leben
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