Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
scheint. Ganz offensichtlich sind mehrere Areale in unserem Kopf für unser Selbst zuständig. Sie befruchten sich wechselseitig, sie beeinflussen, ergänzen und bespiegeln sich. Und am Ende kommt, zumindest bei jedem gesunden Menschen, ein »Ich« dabei heraus. Sieben Milliarden Menschen auf der Welt, die zu sich »Ich« sagen, können nicht irren. Das Ich ist eine gefühlte Realität.
Aber eben: nur eine gefühlte Realität, erzeugt von unserem Gehirn. Unser Ich, unser Selbst, unser Selbstbild und unser Selbstwertgefühl existieren nur als Hokuspokus im Gehirn. Und was andere von uns wahrnehmen, ist nur eine Hülle: unser Körper, unsere Blicke, Bewegungen und Worte - aber niemals unser Ich. Vielmehr bilden sich die anderen ein eigenes Bild von unserem Ich. Manchmal erkennen wir uns in den Beschreibungen, die andere von uns geben, wieder; manchmal weniger und manchmal überhaupt nicht. Doch eine objektive Instanz, die den Schiedsrichter spielen könnte, gibt es nicht. Denn sehen wir uns nicht auch selbst von einem Moment auf den anderen unterschiedlich? Sind unser Selbstbild und unser Selbstwertgefühl nicht ständig abhängig von Situationen und Stimmungen? Unser »Ich« ist ein sehr flüchtiger Stoff. Und ob nun von uns selbst oder von anderen entworfen - stets bleibt es eine Idee, die wir uns machen.
Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden. Ein festes, unverrückbares Ich war in der Entwicklungsgeschichte des Menschen nicht nötig. Und so ist es nicht entstanden. Ebenso wenig wie ein Sinn für objektive Wahrheit. Um in der Savanne zu überleben, war es gewiss wichtig, dass andere Hordenmitglieder ungefähr verstanden, was wir meinten. Und es war wichtig, dass sie uns glauben konnten, wenn wir am Horizont auf eine entfernte
Wasserstelle deuteten. Aber das Universum zu begreifen oder den Sinn des Lebens - dafür sind unsere Gehirne nicht gemacht. Von Prachtexemplaren wie meinem Exschwager abgesehen, sehen wir uns ständig von Fragen umzingelt, die eigentlich eine Nummer zu groß für uns sind. Fragen, wie etwa jene von Woody Allen: »Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und gibt es dort jemanden, der in der Lage ist, einen Zwanzig-Dollar-Schein zu wechseln?«
Unser Bewusstsein ist das wahrscheinlich faszinierendste im Tierreich. Aber alles in allem bleibt für uns trotzdem oder gerade deshalb vieles im Dunkeln. Für Metzinger leben wir eigentlich in einem Tunnel: »Was wir sehen und hören oder ertasten und erfühlen, was wir riechen und schmecken, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was tatsächlich existiert. Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und uns trägt. … Aus diesem Grund ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit.« 2
Die Grenzen unserer Sinneserlebnisse und die Vorstellungen, die wir uns aufgrund unserer Erfahrungen machen können, sind die Grenzen unserer Welt. Wir nehmen nur bestimmte Kontraste wahr, andere nicht. Wir sehen nur manche Ähnlichkeiten, andere nicht. Und was wir nicht wahrnehmen, was uns nicht »nahe«geht, ficht uns nicht an. Wir sehen kein ultraviolettes Licht wie viele Vögel und Insekten. Und wir spüren auch keine elektromagnetischen Schwingungen im Wasser wie Haie oder Wale. Unsere Sinne und unser Gehirn wählen gnadenlos aus: Was nehmen wir auf, und was bleibt draußen. Und nur mit Hilfe solcher Hochleistungsfilter können wir uns den Weg durch die Welt bahnen. Hätten wir sie nicht, die Reizüberflutung würde uns hilflos machen, orientierungslos und entscheidungsunfähig.
Was wir wahrnehmen, ist immer nur eine bestimmte Perspektive auf die Dinge. Schon der Philosoph Edmund Husserl
(1859-1938) zeigte auf, dass unsere Erkenntnis der Welt und unser Handeln immer relativ sind. Den Sinn, den die Dinge, die Worte und Handlungen für uns haben, haben sie nicht von sich aus. Sondern Sinn ist etwas, das wir in sie hineininterpretieren. Unser ganzes Leben besteht aus solchen Interpretationen. So nehmen wir etwas mit Freude, mit Gleichgültigkeit, mit Bedauern, mit Interesse, mit Wut, mit Liebe oder einfach ganz nebenbei wahr. Doch nie haben wir die Chance, die Dinge ganz und gar zu erfassen. Wir betrachten sie stattdessen von einer Seite, wie den Mond. Und während uns die eine Seite hell leuchtet, bleibt die erdabgewandte Seite im Dunkeln.
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