Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Sensibilität für die Welt ist diejenige von Tieren. Von klugen Tieren gewiss, aber der Fokus ist doch sehr begrenzt. Unser Vorstellungsvermögen dagegen ist zu Höhenflügen in der Lage, die Spektakuläres möglich machen.
So etwa können wir Phantasien ausbrüten wie eine »Verantwortlichkeit für die Menschheit«, eine »globale Ethik«, eine »universelle Moral«. Nur steht all dies in keinerlei Verhältnis zu dem, was wir in unserem Leben tatsächlich spüren, begreifen und folglich umsetzen können. Unsere Ideen, so könnten wir in Erinnerung an Günther Anders sagen, sind kleiner als sie selbst.
Vermutlich können wir davon ausgehen, dass wir entgegen jedem evolutionären Sinn zu Gedanken fähig sind, die uns sinnlich überfordern. Aber eben: Weder sucht die Evolution alles unter dem Gesichtspunkt des Vorteils aus, noch ist »Sinn« eine Kategorie der Natur oder der Welt. Vielmehr ist Sinn, wie Husserl zeigen konnte, eine Folge unserer typisch menschlichen Wahrnehmung. Sinn entsteht, wie feinfühlig und intelligent auch immer, durch die bewusste oder unbewusste Vernachlässigung des ganzen Rests.
Unsere sozialen Instinkte und moralischen Intuitionen helfen uns im Leben oft weiter, aber manchmal eben auch nicht. Wenn es ums große Ganze geht, um Abstraktionen und weitreichende Verantwortung, sind wir sinnlich überfordert. Auf der anderen Seite verfügen wir über eine schlaue, aber ziemlich instinktlose und unsensible Vernunft. Verlässt man sich allein auf die Waffen der Vernunft, so wird man zwar große Maximen und Prinzipien formulieren können - aber ein guter Mensch ist man damit noch lange nicht. Weder unsere Intuition noch unsere Vernunft allein machen uns zu guten Menschen.
In den folgenden Kapiteln möchte ich versuchen, die verschiedenen Aspekte unserer Beschränktheit näher vorzustellen. Sie erklären uns den Widerspruch zwischen unserem Selbstgefühl und unseren Taten, die Kluft zwischen Denken und Tun. Und wie es sein kann, dass so viele von uns lieber gute Menschen sein wollen, als es zu sein.
• Die Moral der Horde. Warum Kopieren vor Kapieren kommt
Die Moral der Horde
Warum Kopieren vor Kapieren kommt
Ein Strom des organischen Lebens wälzt sich von den schicksalhaft verbundenen Gruppen zu ihren Ornamenten, die als magischer Zwang erscheinen. … Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.
Siegfried Kracauer
Als Fußgänger in Berlin über eine rote Ampel zu gehen ist gefährlich. Nicht nur, weil Sie sich selbst gefährden. Und auch nicht nur, weil die Polizei Sie dabei erwischen könnte und Ihnen zehn Euro für die Stadtkasse abknöpft. Es könnte sein, dass noch jemand ganz anderes Sie beobachtet: Jens Krause (*1965), Professor für Biologie und Ökologie der Fische am Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei.
Schon an seiner früheren Wirkungsstätte in Leeds hat Krause Fußgänger an Ampeln beobachtet. Unter welchen Bedingungen geht jemand bei Rot über die Straße? Die Antwort ist verblüffend einfach: Wenn es unser unmittelbarer Nebenmann tut! Aus dem Augenwinkel, der auf solche Situationen trainiert ist, registrieren wir das Verhalten derjenigen, die uns körperlich nahe stehen. Hat unser Nebenmann oder unsere Nebenfrau noch ungefähr unsere Größe und marschiert beherzt vorwärts, so zieht uns ein unmerklicher Sog mit über die Straße. Auch etwas weiter entfernte Passanten können uns mitreißen, allerdings eher dann, wenn es mindestens zwei sind. Nur wenn es sich bei unseren Nachbarn an der Ampel um Kinder handelt oder um jemanden,
dessen Aussehen oder Verhalten uns auffällig erscheint, greift dieser Mechanismus nicht.
Kaum hatte Krause seine Beobachtungen abgeschlossen, wäre er fast von einem Auto überfahren worden. Gemeinsam mit seinem Team - die Ausrüstung für die Beobachtungen unter dem Arm - hatte er im Sog der anderen eine rote Ampel ignoriert. Die Verblüffung darüber ist bis heute nicht gewichen. »Obwohl wir das alles ganz genau wussten«, lacht er, »ist es uns selbst passiert!«
Krause sitzt in seinem Büro in einem großen weißen Gründerzeitbau direkt am Müggelsee im äußersten Osten Berlins. 1893 wurde das Institut gegründet, zur Kontrolle der Wasserqualität und zur Überwachung des Fischfangs. Doch Krauses Forschungsobjekt ist nicht der See. Ihn interessieren Schwärme. Der jungenhafte, schlaksige Mann ist
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