Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
»Abschattungen« nannte Husserl die begrenzte Sichtbarkeit der Phänomene durch unsere eingeschränkte Perspektive.
Auch in der Moral, so kann man im Anschluss an Husserl hinzufügen, haben wir es mit solchen Abschattungen zu tun. Unser Licht fällt nur begrenzt, situativ und relativ auf eine Idee, eine Entscheidung, eine Handlung. Wie unsere Vorfahren in der Savanne, deren Gehirne wir geerbt haben, stellen wir uns auf einen »Standpunkt« und nicht auf einen anderen. Wir »nehmen« etwas wahr, »erfassen« und »begreifen« es, aber nie in seiner Gesamtheit. Und wir »vertreten« eine Meinung und stoßen andere damit zur Seite.
Zu der großen Besonderheit des Menschen unter den Tieren gehört, dass unsere Sinne und unsere Intelligenz zwar begrenzt sind - gleichwohl aber sind wir in der Lage, uns Vorstellungen zu machen, die unsere Sinne weit überschreiten. Wir können uns Dinge vergegenwärtigen, die weit in der Vergangenheit liegen. Wir können uns Vorstellungen von der Zukunft machen. Und wir können uns Dinge ausdenken, die es definitiv nicht gibt. Jean-Paul Sartre war davon so fasziniert, dass er den Menschen über genau diese Eigenschaften definierte: Der Mensch, so meinte er im Anschluss an einen Ausdruck Nietzsches, sei das »nichtfestgestellte Tier«. Gemeint ist: das einzige Tier, das in seiner Vorstellungswelt nicht im Hier und Jetzt leben muss.
Doch was hat all dies mit Moral zu tun? Nun, im Prinzip gilt all dies auch für unsere sozialen Fähigkeiten. Wir können über etwas nachdenken, das wir nie mit eigenen Augen gesehen haben. Wir können uns um jemanden sorgen, der Tausende von Kilometern entfernt lebt. Wir können uns moralische Grundsätze wie »die Gerechtigkeit«, »die Fairness« oder »die Verantwortung« ausdenken, die man weder sehen noch anfassen noch messen und berechnen kann. Wie gesagt: Wir können das alles - im Prinzip.
Geht es nach den Anwälten der Vernunft, wie etwa Immanuel Kant, so kann man sich auf die Fähigkeit, all dies im Prinzip zu können, verlassen. Man kann sogar ein ganzes Vernunftgebäude auf diesem Fundament errichten und sagen: Wenn ihr von diesen prinzipiellen Fähigkeiten ausreichend Gebrauch macht oder lernt, ausreichend Gebrauch davon zu machen, dann ist die Welt ein besserer Ort. Doch diese Gewissheit ist heute geschwunden. Wo Kant in seiner Zeit noch hoffen durfte, betreiben die Moralprediger der Gegenwart ein eher müßiges Geschäft, wenn sie anderen Menschen »ins Gewissen« reden und an deren Einsichtsfähigkeit und Vernunft appellieren.
Denn wie wir wissen: Es nützt nicht viel! Und damit kommen wir zurück zu Metzingers Ego-Tunnel. Unser »moralisches Ich« ist genauso wenig real wie der ganze übrige Teil unseres Ichs. Vielmehr ist es eine Vorstellung, wenn nicht gar ein ganzes Ensemble einander widerstreitender Vorstellungen. Wie gezeigt, sitzt unser Gerechtigkeitssinn vermutlich im Scheitellappen unseres Großhirns. Und unser Mitgefühl weitgehend im Stirnhirn. Manchmal spielen sie sich die Bälle zu, ein anderes Mal nicht. Eine feste Instanz, die unsere moralischen Urteile fällt, gibt es also gar nicht. Und unserem Selbstbild verpflichtet zu sein - eine Idee, von der ich nach wie vor fest überzeugt bin - bedeutet immer, unserem momentanen Selbstbild verpflichtet zu sein.
Ein Selbstbild zu haben und ihm verpflichtet zu sein bedeutet nicht, dass dieses Selbstbild konstant ist, unbeirrbar und unbestechlich.
Gerade diese Unterstellung jedoch gehört zu den zähesten Legenden unserer Kulturgeschichte. Homers Helden des klassischen Altertums waren unverrückbare Charaktere. Achilles war tapfer und zornig, Odysseus listig und smart. Auch die Märchengestalten der Gebrüder Grimm kennen keine Zwischentöne, keine Mischfarben, keine Stimmungswechsel und keine Mehrdeutigkeiten. Die Hexe bei Hänsel und Gretel kennt keine Skrupel, kleine Kinder zu essen - einmal böse Hexe, immer böse Hexe. Die Stiefmütter von Schneewittchen und Aschenputtel sind ebenso frei von netten Regungen, wie Schneewittchen und Aschenputtel zu bösen fähig sind.
In der Welt aber, in der wir tatsächlich leben, gibt es Christen, die in der Kirche einen Gott der Liebe verehren und zuhause ihre Kinder schlagen. Es gibt Menschen, die im Beruf routiniert lügen, aber größte Skrupel haben, das Gleiche gegenüber ihrer Frau zu tun. Es gibt Menschen, die in kleinem Kreis mutig sind und öffentlich wegschauen und schweigen. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau hatte offensichtlich
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