Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Zweiten Weltkrieg belehrt unmissverständlich darüber. Der Grund seines Zustandekommens war kein Nahrungsmangel, nicht die Suche nach geeigneten Frauen zur Paarung, kein Territorium, das tatsächlich verteidigt werden musste, und auch kein Aggressionsüberschuss in der vergleichsweise friedlichen Weimarer Republik. Seine Gründe lagen vielmehr in der - biologisch unnötigen - Gier nach Bodenschätzen im Osten, dem gezielt geschürten Revanchismus und einer irrationalen Angst, angefeuert durch den Wahn rücksichtsloser Führungseliten.
Ihrer Natur nach sind Menschen zu vielen Emotionen fähig, darunter auch zur Aggressivität. Aggressives Verhalten kann zur Gewalt führen, zu Mord, Totschlag, Rache usw. Als Erklärungsgrund dafür, dass es in der Geschichte der Menschheit zu ungezählten Kriegen gekommen ist, taugt der Hinweis auf die unter anderem aggressive Natur des Menschen eher wenig. Krieg ist nicht die Verlängerung des Aggressionstriebs ins Gesellschaftliche und Politische. Aus dieser Sicht betrachtet steht dem friedlichen Umgang der Völker miteinander prinzipiell nichts entgegen. Auch wenn viele schwierige Umstände und gezielte Manipulationen noch immer dafür sorgen, dass es in vielen Teilen der Welt zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt.
In Bezug auf die Weltbevölkerung ist die relative Anzahl der Kriegstoten seit längerer Zeit stark rückläufig. Ein Grund dafür dürfte sein, dass heute weit mehr Menschen unter dem Einfluss von Zentralgewalten stehen als früher. Betrachtet man die Geschichte und die Bedingungen von Kriegen, so findet man auch hier keine grundsätzliche Bestätigung dafür, dass Menschen allgemein schlecht sind oder von starkem Egoismus getrieben werden. Nicht Aggressionsüberschuss oder das unbedingte Durchsetzen von Interessen verursachen die meisten Kriege, sondern irrationale und manipulierte Angstgefühle. Um die Welt zu einem Ort kriegerischer Konflikte zu machen, bedarf es weder zwingend einer bösen Absicht noch eines genetischen Interessenkalküls. Das ist insofern nicht verwunderlich, als dass böse Absichten und genetische Interessen auch sonst eher wenig Einfluss auf unser Sozialverhalten haben. Wie ausführlich gezeigt, bemühen sich die allermeisten Menschen ziemlich intensiv darum, vor sich selbst gut dazustehen.
Doch warum tut sich zwischen Selbstbild und Handeln oft eine so große Kluft auf? Wie kommt es zu der allmählichen Verflüchtigung des Guten im Handeln? Bislang habe ich Ihnen vor allem viele gute Nachrichten über unsere moralische Natur erzählt. Nun, so fürchte ich, kommen die schlechten.
Wollen und Tun
Der moralische Tunnelblick
Tierische Gefühle, menschliche Verantwortung
Mein Exschwager ist ein Glückspilz. Er ist im Besitz der Wahrheit. Was auch immer er sagt, was er denkt und tut - es ist richtig. Zweifel werden nicht zugelassen, Skrupel und Bedenken sind ihm unbekannt. So wie er lebt, so lebt sich das optimale Leben. An seinem Wesen könnte die Welt genesen. Dabei ist er wenig mitfühlend, hat kaum Freunde und geht vielen mit seiner kompromisslosen Haltung nachhaltig auf den Geist. Aber immerhin: Er schläft gut.
Glückspilze wie mein Exschwager sind selten. Im Allgemeinen nämlich sind sich die Menschen in ihrem Sosein nicht so sicher. Und wer die Wahrheit liebt, bildet sich niemals ein, sie zu besitzen. Sich seiner Sache sicher zu sein ist selten ein Zeichen von Aufrichtigkeit oder von Intelligenz. Eher von Arroganz, und deren Kehrseite ist die Naivität. Erinnern wir uns an Martin Seel, der meinte, dass nur die Doofen mit sich selbst im Reinen sind.
Doch woran liegt das eigentlich? »Der Mensch«, meinte der Sozialphilosoph Günther Anders (1902-1992) vor fünfzig Jahren, »ist kleiner als er selbst.« 1 Wir sind zu vielem in der Lage, aber zu viel weniger fähig. Was ist damit gemeint? Fragt man einen modernen Philosophen wie Thomas Metzinger (*1958), Professor an der Universität Mainz, so gibt es dafür eine schlichte, aber eindrucksvolle Erklärung: Wir sind deshalb kleiner als wir selbst, weil es uns gar nicht gibt!
Der Reihe nach: Alles, was wir über die Welt wissen, wissen
wir durch unser Gehirn. Es erzeugt uns die Farben und Bilder, die Gerüche und Gefühle, die Vorstellungen und Gedanken. Eine dieser Vorstellungen und Gedanken hat es dabei auf ganz besondere Weise in sich: Es ist die Vorstellung von uns selbst. Wie sie genau entsteht, ist bis heute ein Geheimnis, das unser Gehirn nur ungern preiszugeben
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