Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
häufig völlig unfruchtbare Sensationslust? Sind Tratsch, Missgunst, Neid und Schadenfreude nicht auch Instinkte und Intuitionen? Unsere Werbemedien bedienen sich solcher Instinkte und rauben damit gezielt unsere Aufmerksamkeit, um uns am Ende Versicherungen oder Schokoriegel zu verkaufen. Der durchschnittliche Deutsche kennt mehr Automarken als heimische Pflanzen, mehr Vorabendseriendarsteller als Philosophen. Und er weiß mehr über die Scharmützel zwischen Brad Pitt und Angelina Jolie als über die Zusammenhänge der Weltwirtschaft oder des Klimawandels.
Das Erschreckende daran ist, dass unsere Instinkte mehr zu unseren Urteilen über das Leben beizutragen scheinen als sorgfältig abgewogenes Wissen. So etwa wussten die Wähler in den USA 1992 über ihren Präsidentschaftskandidaten George Bush sen. vor allem eines: dass er Broccoli hasste. Und an zweiter Stelle? Den Namen seines Hundes Millie. 5
Auch unsere Wahlentscheidungen sind, wie Gigerenzer feststellt, nicht das Ergebnis eines sorgfältigen Abwägens von Information. Die gefühlte Zugehörigkeit zu einer Partei ist wichtiger als ihr Programm, die Ablehnung von bestimmten Personen wichtiger als ein umfassendes Pro und Contra. Erinnern wir uns an Jonathan Haidt, der meinte, dass wir unsere Werte (und wohl auch unsere Argumente) unseren Weltanschauungen anpassen und nicht umgekehrt. Wie sonst wäre es erklärlich, dass durchaus intelligente Menschen häufig mehr Ehrgeiz darauf verwenden, eine irrige Hypothese, eine falsche Annahme oder eine impraktikable Ideologie zu verteidigen, als schlichtweg einzusehen, dass sie sich geirrt haben? Ob in der Wissenschaft, der Wirtschaft oder in der Politik - immer wieder versuchen Menschen lieber einen toten Gaul durchs Ziel zu reiten, statt ein anderes Pferd zu satteln.
All dies macht die Frage nach unseren moralischen Entscheidungen im Leben zu einer ziemlich heiklen Angelegenheit. Wir überschauen unser Leben nicht, geschweige denn all die Folgen unseres Handelns. Und weil wir dies wissen, oder zumindest ahnen, machen wir uns meist auch nur wenig Mühe: Die meisten Entscheidungen sind schneller gefällt, als wir denken können. Und über viele moralische Urteile legen wir uns selbst kaum Rechenschaft ab. Wir alle wissen, dass es nicht gerade zu den edlen Charakterzügen gehört, über andere Menschen schlecht zu reden. Und dennoch machen die meisten von uns reichhaltig Gebrauch davon; reichhaltiger sogar, als uns selbst oft bewusst ist.
Immanuel Kant ging davon aus, dass wir uns selbst in unseren Entscheidungen und in unserem Handeln reflektieren. Tatsächlich sind Menschen dazu - in ziemlich unterschiedlichem Maß -
in der Lage. Nur, wie oft tun wir das? Und was machen wir mit den vielen Umständen, die unsere Stimmung beeinflussen und unsere Aufmerksamkeit? Sind wir im Stress, sind wir viel weniger sensibel für die Probleme der anderen. Der Obdachlose, der auf der Straße bettelt, hat eine bessere Chance darauf, dass ich ihm eine Münze in den Korb lege, wenn ich gute Laune habe als schlechte. Und er bekommt mit Sicherheit nichts, wenn ich Angst habe, den Zug zu verpassen. 6
Einen eindrucksvollen Beleg dafür lieferten die beiden US-AMERIKANISCHEN Sozialpsychologen Daniel Batson (*1943) und John Darley (*1938) von der Princeton University. Das Gute-Samariter-Experiment, das sie 1970 durchführten, wurde weltberühmt. Sie baten 47 Theologiestudenten, einen Vortrag zu halten. Die einen über Karrierechancen von Theologen, die anderen über das Bibelthema »Der barmherzige Samariter«. In beiden Fällen wurden die Studenten zu höchster Eile angetrieben, um rechtzeitig zum Vortrag im Hörsaal zu sein. Dabei stießen sie vor dem Vortragsgebäude auf einen zusammengesunkenen und offenbar hilfsbedürftigen Mann, der laut aufstöhnte. Würden die gehetzten Studenten anhalten und ihm helfen? Das Ergebnis: Nur zehn Prozent der Studenten ließen den Vortrag Vortrag sein und kümmerten sich um den Mann - und zwar völlig gleich, ob ihr Thema die Karriere war oder der barmherzige Samariter. Die intensive Beschäftigung mit dem Thema Barmherzigkeit verhinderte nicht, dass sie den hilfsbedürftigen Mann ignorierten oder schlichtweg übersahen.
Wenn wir moralisch handeln, dann handeln wir nicht in der Welt der Prinzipien, sondern der Situationen. Wir müssen uns oft schnell entscheiden, zum Abwägen fehlt meist die Zeit. Und die erstbeste Eingebung erscheint uns deshalb oft als die beste. Unsere Wahrnehmung und unsere
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