Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
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Auch die dunkle Seite unseres Kopierens und Im-Strom-Schwimmens ist bekannt. Auf körperlicher Ebene zeigt sie sich als Massenpanik bei Katastrophen. Verbal besteht sie im Nachplappern von Mehrheitsmeinungen und Gerüchten. Und sozial beginnt sie beim Mobben von Kollegen und endet mit Pogromen. Intuitiv synchronisieren wir uns mit dem Schwarm und blenden unseren prüfenden Verstand aus. Als Teil der Menge nämlich fühlen wir uns oft nicht entfernt so stark für unser Handeln verantwortlich wie als Einzelpersonen. Wo der sanfte Flügel der Masse weilt, werden alle Menschen Brüder und Schwestern - aber in gleichem Maße verlieren sie ihren Verantwortungssinn. Nichts anderes hatte der Schriftsteller und Sozialphilosoph Siegfried Kracauer (1889-1966) im Sinn, als er die ästhetische Faszination des »Ornaments der Masse« beschrieb. Je stärker wir uns in einer großen Formation aufgehoben fühlen, umso »wesentlicher« empfinden wir uns. 13 Und die bekannte Folge ist unsere Manipulierbarkeit.
Als soziale Tiere, die Gruppen und Horden bilden, haben Menschen uralte soziale Refexe des Schwarmverhaltens. Sie helfen uns bei der unbewussten Orientierung im Alltag. Darüber hinaus aber manipulieren sie auch unser Sozialverhalten bis hin zu unseren moralischen Entscheidungen. In vielem orientieren wir uns an Vorgaben
und am Verhalten anderer. Die Reichweite unserer moralischen Abwägungen im Alltag wird dadurch häufig verengt. Die Macht der Gewohnheit, unhinterfragte Mehrheitsgrundsätze und das Handeln uns nahestehender Menschen beeinfussen unsere Moral oft mehr, als uns bewusst ist.
Ohne Zweifel ist das Maß, wie sehr wir uns in moralischen Fragen am Schwarm orientieren, individuell verschieden. Vom Mitläufer zum Rebellen gibt es große Unterschiede. Und nicht alles, was andere tun, wird leichter Hand kopiert. »Großmut findet immer Bewunderer, selten Nachahmer, denn sie ist eine zu kostspielige Tugend«, amüsierte sich Johann Nepomuk Nestroy über die Grenzen unseres Kopierinstinkts. Doch dass wir ohne die Ausrichtung unseres Verhaltens auf die anderen Gruppenmitglieder gar nicht sozial verträglich und integrierbar wären, daran besteht kein Zweifel. Aber was ist eigentlich mit denen, die nicht zu unserer Bezugsgruppe gehören. Was ist mit den anderen?
• Engstirniges Pfarrvolk: Wir, die anderen und die ganz anderen
Engstirniges Pfarrvolk
Wir, die anderen und die ganz anderen
Am anderen Ufer sitzt einer, der von mir denkt: Sieh an, da sitzt einer am anderen Ufer.
Guy Rewenig
Oskar ging drei Jahre lang in den Kindergarten. Seine Gruppe war die der Igel. Es gab auch eine zweite Gruppe, die Strolche. Häufig waren die beiden Gruppen getrennt. Nur ab und zu unternahmen sie etwas miteinander. Im letzten Kindergartenjahr, Oskar war fünf, erzählte er mir, dass er die Strolche nicht leiden könne. Keiner der Igel möge die Strolche. Die Strolche seien nämlich alle blöd, sie würden immer Streit anfangen. Nun ist Oskar ein cleveres Kind. Also fragte ich ihn, ob die Strolche das wohl genauso sehen. Oskar dachte nach, aber nicht lange. Nein, die Strolche würden das anders sehen. Sie glaubten, dass die Igel immer Streit anfangen. Einen Punkt für Oskar, dachte ich. »Und was stimmt nun«, fragte ich, »wer fängt den Streit an?« Mein Sohn blickte mich verwundert an. »Die Strolche natürlich!«, sagte er, irritiert über meine seltsame Nachfrage.
Doch kein Punkt für Oskar.
Aber vielleicht sollte ich nicht so hart mit ihm ins Gericht gehen. Denn das, was sich zwischen Igeln und Strolchen abspielt, ist nichts anderes als typisches Primatenverhalten. Fast alle Affen - eine Ausnahme bilden die Gibbons und Orang-Utans - leben in Horden. Und folglich denken sie nach den Gesetzen der Horde. Zwar kann man lange darüber nachdenken, ob Affen ein »Wir«-Gefühl haben und wie weit dieses Gefühl reicht. Aber eines gilt wahrscheinlich für alle Primaten: Wer nicht dazugehört,
der gehört zu den anderen. Und wenn es Konflikte mit den anderen gibt, dann sind wir die Guten. Und sei es nur deshalb, weil wir eben wir sind und nicht die anderen.
Unser enormes Bedürfnis und unsere Fähigkeit, Gemeinschaften zu bilden, hat also auch einen gefährlichen Nachteil: Wer »wir« sagt, der kennt auch unweigerlich die, die nicht zu diesem »wir« gehören, also »die anderen«. Die Einwohner der Stadt Köln zum Beispiel kennzeichnen sich durch einen Lokalpatriotismus, der in Deutschland wohl beispiellos
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