Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
»legitime« und »gerechte« Sache und wird sogar als »Notwehr« verkauft. Die Kameraden scheinen das ähnlich zu sehen, wenn sie fast alle im Glied bleiben. Wer leistet sich jetzt und hier schon eine Außenseitermeinung? Hatte Trapp nicht auch davon gesprochen, dass es mit der »Aktion« darum gehe, die Lieben daheim zu schützen? Gibt es nicht ein »wir«, das gegen »die« verteidigt werden muss? Und nicht zuletzt: Wie waren die Polizisten erzogen worden? Sie stammten allesamt aus autoritären Elternhäusern
und wuchsen auf mit einem Männerbild, das kaum etwas mit dem heutigen mehr zu tun hat. Und in einem Schul- und Ausbildungssystem, das fast keine Diskussionen und eigenen Meinungen kannte, sondern Unterordnung, Konformität und Autoritätsgläubigkeit.
Von der Summe dessen, was den Männern des Bataillons durch den Kopf gegangen sein könnte, sprach allem Anschein nach tatsächlich mehr für das konforme Verhalten als das nichtkonforme. Und so entsetzlich und so unnachvollziehbar die Entscheidungen auf den ersten Blick sind, für die Polizisten waren sie wohl einigermaßen stimmig und plausibel.
Moralische Maßstäbe und Kriterien, das lehrt nicht nur dieses Beispiel, sind verschiebbar. Unsere Moral folgt nicht den einmal fest verlegten Schienen eines Regelverkehrs. Eher ist sie eine Lokomotive auf einem Rangierbahnhof. Sie fährt hin und her. Und wenn es notwendig ist, wechselt sie mitunter auch das Gleis. Nicht die Schienen bestimmen dabei unsere Richtung, sondern unser Auftrag und unser Fahrplan. Wer meint, dass er sich auf seine eigenen Grundsätze in jeder Lebenssituation verlassen kann, verrät entweder einen Mangel an Phantasie, oder er ist ein sehr erstaunlicher Mensch.
Auf drastische Weise zeigt das Beispiel des Polizeibataillons 101 ein nicht ganz ungewöhnliches menschliches Verhalten: dass wir in moralischen Entscheidungssituationen manchmal weder unseren Grundsätzen folgen noch unseren wohlverstandenen Interessen. Denn es ist gewiss nicht die Moral aus der Geschichte, dass die Polizisten ihre moralischen Prinzipien zugunsten ihrer Interessen über Bord warfen. Die These mancher Soziobiologen, dass wir, wenn es hart auf hart kommt, nur noch unseren Interessen folgen, bewahrheitet sich hier gerade nicht. Ein wohlverstandenes Eigeninteresse nämlich hätte darin bestanden, den geringstmöglichen Schaden an der eigenen Psyche zu nehmen. Die Männer folgten nicht ihren Interessen, sondern einem sozialen Reflex. Sie fügten sich dem Konformitätsdruck auf Kosten
eines sehr hohen Preises. Und sie legitimierten ihr Verhalten nicht durch ihr Eigeninteresse, sondern dadurch, dass es auch für die anderen legitim zu sein schien.
Legitimation durch Konformität ist die Maxime, nach der wir unser moralisches Verhalten auch in Alltagssituationen ausrichten. Was alle tun, kann nicht ganz falsch sein. Und wenn es für meine Freunde und Kumpels in Ordnung ist zu rauchen, warum soll ich dann mir selbst gegenüber ein besserer Mensch als sie sein wollen? Gerade die Pubertät, das Alter, in dem wir uns aus der Bezugsgruppe unserer Familie lösen, ist die Phase unseres stärksten Konformitätsverhaltens gegenüber unseren Freunden (vgl. Natur und Kultur. Wie wir Moral lernen). Selbst der größte Nonkonformist sucht sich immer eine Bezugsgruppe. Im Zweifelsfall die gefühlte Verbundenheit mit anderen Nonkonformisten.
Schon Kinder lernen normalerweise schnell, dass sie Erfolg haben, wenn sie sich einigermaßen gruppenkonform verhalten. Wer immer aus der Reihe tanzt, kriegt schnell Schwierigkeiten. So ist es kein Wunder, dass wir uns antrainieren, unser Verhalten nach den Spielregeln unserer Bezugsgruppen auszurichten. In der Wahl seiner Kleidung zum Beispiel ist niemand ganz frei - es sei denn, er geht ein bewusstes Risiko ein. Wer als Junge ernsthaft meint, dass er genauso gut mit einem Rock in die Schule gehen könnte wie mit einer Hose, löst Irritationen und Gelächter aus. Und obwohl es zu den Spielregeln unserer westlichen Gesellschaft gehört, etwas Besonderes sein zu wollen, hält sich die Auswahl in sehr engen Grenzen. Wir variieren in einem viel kleineren Spielraum, als wir uns selbst oft bewusst sind. Ein Architekt, der eine etwas ausgefallene Brille trägt, verliert nicht seine Vertrauenswürdigkeit. In fleckigen Espadrilles dagegen kommt er uns schon verdächtiger vor. Unser Zahnarzt darf auch in jungem Alter eine modische Glatze, aber keine schmutzigen Fingernägel haben.
Wer wirklich ganz anders
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