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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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gleichen Sätze: »Bitte, fahren Sie fort!«, »Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!«, »Sie müssen unbedingt weitermachen!«, »Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!« Er versicherte dem Lehrer freundlich, aber bestimmt, dass die Schocks keinen bleibenden körperlichen Schaden hinterließen. Außerdem bekannte sich der Versuchsleiter zur vollen Verantwortung.
    Die Manipulation der Lehrer durch den Versuchsleiter zeigte Früchte. Von vierzig Lehrern gingen 26 den vorgezeichneten Weg trotz Skrupeln bis zum bitteren Ende. Am Ende verabreichten sie ihrem Schüler Stromstöße der maximalen Spannung von 450 Volt - eine enorme Grausamkeit! Nur 14 wagten es, das Experiment entgegen den Anweisungen vor dem Ende abzubrechen. Und auch sie waren allesamt mindestens bis zu Stößen von 300 Volt gegangen.

    Das Ergebnis war schockierend. Obwohl bereits das Versuchsinventar an einen elektrischen Stuhl erinnerte, wurde kein einziger Lehrer abgeschreckt, den harmlosen netten Schüler mit Stromstößen zu traktieren. Schlimmer noch, waren sie in der Mehrheit bereit gewesen, ihre Gewissensskrupel über Bord zu werfen und das zunehmend grausamere Experiment weiter durchzuführen. Milgram veröffentlichte diese Ergebnisse in einem angesehenen Fachmagazin. 1 Der Artikel sorgte für Furore. Die American Association for the Advancement of Science verlieh ihm 1964 ihren renommierten Preis.
    Doch nicht alle reagierten so enthusiastisch. Milgram selbst wurde von erheblichen Skrupeln geplagt. In seinem Tagebuch fragte er sich, ob seine Tests nicht ethisch zu fragwürdig gewesen waren. Die US-amerikanische Psychologenvereinigung schloss den umstrittenen Nachwuchsprofessor sogar für ein Jahr als Mitglied aus. Forschungsprojekte, bei denen man mit der Gefahr spielte, Versuchspersonen zu traumatisieren, seien nicht akzeptabel.
    Was hatte Milgram zu einem derart drastischen Experiment getrieben? Nun, auch der junge Psychologe wollte wissen, was in der Nachkriegszeit nahezu unerklärlich schien: Wie war der Holocaust möglich gewesen? Wie kam es, dass vermeintlich ganz normale Männer in enormer Zahl zu Massenmördern wurden? Die übliche Erklärung dafür war, dass Deutsche offensichtlich sehr merkwürdig veranlagt sind. Der deutsche Charakter sei viel höriger gegenüber Autoritäten als derjenige anderer Völker. Aber das überzeugte Milgram nicht. Seine Untersuchung bewies, dass ganz normale US-Amerikaner aus dem Bundesstaat Connecticut genauso manipulierbar waren wie die seltsamen Deutschen.
    Das Ergebnis ließ Milgram keine Ruhe. Obwohl er sich mit seinen umstrittenen Experimenten um eine Professur an der ehrwürdigen Harvard University brachte, startete er zahlreiche ähnliche Versuchsreihen. Er fand heraus, dass Frauen als Lehrer genau die gleiche Folgsamkeit zeigten wie Männer. Ein großer
Unterschied zum ersten Test ergab sich erst dann, wenn der Versuchsleiter nicht persönlich anwesend war. Bekamen die Lehrer ihre Anweisungen nur über Telefon, begannen sie zu tricksen. Sie gaben vor, Stromstöße verabreicht zu haben, die in Wirklichkeit unterblieben. Und nur eine geringe Zahl brachte das Experiment bis zur Höchstgrenze von 450 Volt. Der Gehorsam nahm auch ab, wenn Schüler und Lehrer sich im gleichen Raum befanden. Je unmittelbarer die Lehrer mit den Folgen der Schocks konfrontiert waren, umso zögerlicher wurden sie mit den Stromstößen.
    Als Professor am Graduate Center der City University of New York variierte Milgram den Versuchsaufbau. Bislang waren die Lehrer bei den Versuchen immer isoliert gewesen, beeinflusst allein vom Versuchsleiter. Nun testete Milgram den Einfluss der Gruppe, beziehungsweise der »Kameraden«. Saßen die Lehrer zu dritt im Raum, so veränderte dies maßgeblich das Verhalten. Die Kameraden waren zwei eingeweihte Studenten. Im einen Fall leisteten sie dem Versuchsleiter sichtbar Widerstand. Im zweiten Fall folgten sie gehorsam seinen Anordnungen. Und das Resultat? Im ersten Fall brachen neunzig Prozent der Lehrer das Experiment ab. Im zweiten Fall dagegen führten mehr als neunzig Prozent der Versuchspersonen die Sache bis zum letzten Ende - Legitimation durch Konformität.
    Leichter hatten es die Lehrer, sich dem Druck zu entziehen, wenn sie es mit zwei Versuchsleitern zu tun hatten. Waren sich diese uneinig, brachen alle Lehrer das Experiment vor dem Ende ab. Auch wenn eine weitere Person, die nicht den Rang des Versuchsleiters hatte, sich als oberste Autorität aufspielte, war

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