Die Kunst, nicht abzustumpfen
nicht dargestellt werden kann). Kurz gesagt, ist diese unter anderem charakterisiert durch ein vierdimensionales und »zeitfreies« Raum-Zeit-Verständnis sowie ein Bewusstsein, das Gebser als »Sich« bezeichnet und dem Jung’schen Selbst entsprechen dürfte. Meine These ist, dass ein soziales, ökologisches oder politisches Engagement aus dem Selbst bzw. Satyagraha bereits der integralen Welt angehört; mit einem solchen Handeln sind wir schon Teil der Lösung.
Damit endlich zurück zur Frage: Was geschieht, wenn sich Menschen begegnen, die verschiedenen Bewusstseins-Strukturen angehören? Genauer: Was geschieht, wenn Menschen mit integralem Bewusstsein auf Menschen treffen, die noch der defizient-mentalen Struktur verhaftet sind? Um diese Frage beantworten zu können ist es vielleicht hilfreich, den Blick zunächst auf ein vergleichbares Ereignis aus dem 16. Jahrhundert zu richten:
Das Aufeinandertreffen zweier Bevölkerungsgruppen aus – buchstäblich – verschiedenen Welten: Hier die mittelamerikanischen
Azteken, die zu dieser Zeit im defizienten magischmythischen Denken befangen waren, dort ein paar hundert Spanier, die schon im Besitz der neuen, damals kraftvollen mentalen Haltung waren. Eine Schilderung dieser erschütternden Begegnung findet sich in der aztekischen Chronik, die Fray Bernardino de Sahagún, basierend auf Berichten der Azteken acht Jahre nach der Eroberung Mexikos durch Fernan Cortés niederschrieb. Die Eroberung der Stadt Mexiko wird so geschildert (zit. in Gebser 1988, 30):
das dreizehnte Kapitel; darin wird erzählt,
wie Montecuhcoma,
der mexikanische König,
andere Zauberer schickt,
dass sie die Spanier zu behexen suchen sollten,
und was ihnen auf dem Wege geschah.
und die zweite Schar von Boten,
die Wahrsager, die Zauberer,
und die Räucherpriester,
gingen ebenfalls sie zu empfangen (ihnen entgegen).
Aber sie taugten nichts mehr,
sie konnten die Leute nicht mehr bezaubern,
sie konnten ihren Zweck bei ihnen nicht mehr erreichen,
sie gelangten (sogar) nicht mehr hin.
In nur wenigen Sätzen wird hier der Zusammenbruch einer ganzen Welt beschrieben. Die magisch-mythische Haltung der Mexikaner wirkte angesichts der Spanier plötzlich nicht mehr: sie zerfiel in dem Moment, da sie auf die mentale, rational-technische Haltung der Ankömmlinge traf. Entscheidend war dabei nicht in erster Linie die materielle Überlegenheit der kleinen Gruppe von Spaniern und ihrer Waffen (die kaum zum Einsatz kommen mussten), sondern die Stärke ihres Bewusstseins vis-à-vis der Schwäche der mexikanischen. Gebser: »Denn der Zauber, der echte, magische Zauber, der für die Mexikaner ein tragendes Bewusstseinselement kollektiver Art war, wirkt
nur auf die clanmäßig Gleichgestimmten; an nicht clanmäßig Gebundenen und Gleichgestimmten prallt er ab.«
Das rational-technische Ich-Bewusstsein der Spanier war durch Zauber und Räucherpriester nicht zu beeindrucken. Dieser Besitz machte sie, mehr als ihre Waffen, den Mexikanern überlegen »und zwar derart überlegen, dass sich die Mexikaner fast kampflos ergaben.« (Gebser 1988, 31). Hätten diese aus ihrer Ich-losen Haltung heraustreten können, wäre der spanische Sieg zweifelhaft oder weniger leicht gewesen.
Dieses Ereignis lässt vermuten, was heute geschehen mag, wenn Menschen aufeinandertreffen, die einerseits dem integralen, andererseits dem defizient-mentalen Bewusstsein angehören: Könnte letzteres »durch ein neues Bewusstsein überwunden werden«, wie Gebser (1988, 31) schreibt? Könnte, ähnlich wie bei den Mexikanern, Verblüffung und Entwaffnung ausgelöst werden? Oder ein Gefühl der Befreiung, Erleichterung oder gar des Entzückens, wie beim Quadrat, als es die Dritte Dimension erblickte? Könnte vielleicht so etwas wie eine Anziehungskraft wirksam sein? Könnte es sein, so Tilman Evers (1987, 226), dass eine qualitative Politik »die Wirkgesetze der gängigen mechanischen Politik mit ihren Prinzipien von Druck und Gegendruck hinter sich lässt? Wirkt sie statt durch den Druck und Gegendruck durch den Sog von Modellen, die Anziehungskraft von gelingendem Leben?«
Viele Erfahrungen bei Satyagraha-Aktionen bzw. selbstmotiviertem Engagement werden auf diesem Hintergrund vielleicht verständlich. Zum Beispiel die folgende Aktion vom Sommer 1983, während einer Friedenswanderung in der Bundesrepublik, von der ein Teilnehmer berichtet: »Eines Freitagnachmittags, nach einer langen, anstrengenden Wanderung in großer Hitze erreichen
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