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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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Warte des Über-Ich angeht, der bewegt sich, so Schmidbauer (1991, 186), »in der Dialektik richtig – falsch, gut – böse, wobei über diese Werte nicht einfühlsam und realitätsbezogen gesprochen wird. Vielmehr macht sich eine deutliche Neigung bemerkbar, sie starr zu verteidigen, mit indirekter Aggression gegen andere Werte vorzugehen und den Menschen, die sie vertreten, vorwurfsvoll zu begegnen.«
    In politischen Diskussionen mit Andersdenkenden (z. B. bei Aktionen der Friedensbewegung) habe ich häufig erlebt, dass Meinungsverschiedenheiten zunehmend polarisieren und zu verbalen »Aufrüstungsspiralen« eskalieren. Rückblickend denke ich, dass daran nicht selten auch wir Aktivisten beteiligt waren: Indem wir, indirekt aggressiv, uns selber als »gut«, die »richtige Sache« vertretend, darstellten, und damit unbewusst dem Gesprächspartner die Position des »Bösen« zuwiesen. Solange die zugrunde liegende narzisstische Bedürftigkeit des Helfers bzw. Aktivisten nicht bewusst gemacht wird, besteht die Gefahr, dass unbewusst genau das gefördert wird, was eigentlich bekämpft wird: Polarisierung, Aggression und »Aufrüstung«.
    Beide Beispiele mögen illustrieren, dass Selbsterfahrung für sozial oder politisch Engagierte (z. B. in Form von Supervision) dazu beitragen kann, die eigene Arbeit qualitativ zu verbessern. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, wie wichtig es ist, den »inneren« und »äußeren« Weg zusammenzubringen.
    Über die Zeit
    Keine Armee der Welt kann sich der Macht einer
Idee widersetzen, deren Zeit gekommen ist.
    Victor Hugo
     
    Mit den Augen eines Wirtschafts-Managers betrachtet ließe sich mancher Burn-out von Aktivisten auch durch besseres Management »wegrationalisieren«. Aus dieser Sicht könnte so manche Initiative für Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung ihre Arbeit »effektivieren« mit Hilfe von Kompetenzen in »Zeit-Management« und Arbeitsorganisation. Dadurch könnte ihr »Verbrauch« der »Ressourcen« Arbeitszeit und Energie »optimiert« und folglich manche Erschöpfung »eingespart« werden. Hinter dieser Betrachtung steht freilich ein quantitatives Konzept von Zeit, wie es charakteristisch ist für die dreidimensional-mentale Bewusstseins-Struktur: Zeit ist gleich »Uhr-Zeit«.
    Zeit ist jedoch nicht nur Quantität, sondern auch Qualität ; diese Dimension von Zeit erschließt sich (in Jean Gebsers Begrifflichkeit) erst einem vierdimensional-integralen Bewusstsein. Hier geht es um die Einsicht, dass Zeit nicht nur »Ressource« und »Gegenstand« ist, der in immer gleichen Abständen – Sekunden, Minuten, Stunden usw. – linear abläuft. Vielmehr besitzt jeder Augenblick auch seine ganz eigene Qualität. Dieser Zeitbegriff ist z. B. im Alten Testament so formuliert:
    Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Stein zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.«
    Prediger, Kapitel 3, 1-8

    Dieses Zitat ließe sich so fortsetzen: »Auch beten und demonstrieren hat seine Zeit, meditieren und protestieren, stillhalten und kämpfen, lassen und tun, nach innen schauen und im Außen aktiv werden, einatmen und ausatmen usw. hat seine Zeit.«
    Bezogen auf das Thema dieses Kapitels bedeutet ein qualitatives Verständnis von Zeit dies: Erschöpfung mag zwar in manchen Fällen die Folge davon sein, dass mit der »Quantität« Zeit nicht gut umgegangen wurde. Sie kann aber auch etwas ganz anderes bedeuten: dass wir vielleicht das Richtige tun, dies jedoch zum falschen Zeitpunkt. Denn kaum etwas erschöpft so sehr wie ein Handeln, für das die Zeit nicht gekommen ist (und kaum etwas ist so wenig wirkungsvoll).
    Positiv gewendet: Kaum etwas vermag so zu energetisieren wie ein Handeln, für das die Zeit gekommen ist, das der jeweiligen Zeit-Qualität entspricht. Dies meint auch Tilman Evers (1987, 229), wenn er über eine Politik »gelebter Wahrhaftigkeit« schreibt: diese »Arbeit scheint mehr Kraft zu geben, als zu kosten, selbst Zufälle kommen zu Hilfe«. Dies wurde auch in Monika Griefahns Bericht über die Anfänge von Greenpeace deutlich (Seite 123). George Leonard (1986, 128, 141) spricht von Augenblicken des

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