Die Kunst, nicht abzustumpfen
»vollkommenen Rhythmus«, in denen unser Handeln leicht, richtig und mühelos, erfüllt und intensiv zu sein scheint; wir haben dabei »das Gefühl, mit allem in der Welt ›synchron‹ zu schwingen.«
Ein hervorragendes Gespür für die Qualität der Zeit hatte Gandhi, auch dies erklärt m. E. seine außergewöhnliche Wirksamkeit. Er war keineswegs der permanent tätige Aktivist, sondern legte großen Wert darauf, Zeiten für Gebet, Meditation und die Arbeit am Spinnrad zu haben. So gab Gandhi Ende 1925 den Kongressvorsitz auf und zog sich in den Sabarmati-Ashram zurück, um 1926 ein Jahr des Schweigens einzulegen. Erst 1927 ging er wieder auf Reisen, um zu den Menschen in verschiedenen Teilen des Landes zu sprechen. Ende 1929 erklärte Jawaharlal Nehru den 26. Januar 1930 zum Tag der
Unabhängigkeit Indiens; Gandhi wurde bevollmächtigt, eine Bewegung des Widerstands gegen die Briten zu organisieren. Grabner (2002, 195) schreibt über die folgenden Wochen:
»Wieder einmal stand der Mahatma im Brennpunkt des politischen Geschehens. Indien schaute nach Sabarmati, wohin er sich zurückgezogen hatte, um zu meditieren. Sechs lange Wochen verstrichen, ohne dass sich Gandhi äußerte, auf welche Weise er den Kampf zu führen gedachte.« Was dann geschieht, ist im Spielfilm »Gandhi« (Attenborough 1982) eindrucksvoll dargestellt: Man sieht Gandhi im Ashram, meditierend, spinnend, im Gespräch mit einem westlichen Journalisten. Plötzlich – unterstrichen durch markante Sitar-Musik von Ravi Shankar im Hintergrund – geht es wie ein »Ruck« durch Gandhi; er wirkt ganz wach, richtet sich auf und scheint nach etwas zu schnüffeln, was »in der Luft zu liegen« scheint. Dann springt er auf, ganz energetisiert, um den Salzmarsch vorzubereiten: eine Aktion, die so harmlos zu sein schien, und doch letztendlich die Kapitulation der Briten einläutete. Ganz offenkundig: eine Aktion zum richtigen Zeitpunkt.
Dieser Aktion gingen sechs Wochen der Meditation voran. Sechs Wochen! Welche Ungeheuerlichkeit in einer Zeit, in der so viele Menschen um Gandhi erwarteten, dass es schneller gehen soll! Und doch sind diese Wochen eine ganz wesentliche Zeit, da nur in der Stille des Ashrams etwas Neues heranreifen konnte. Gandhi sprach oft von seiner inneren Stimme (die er zugleich als Stimme der Massen verstand), die zu ihm unerwartet, dann jedoch verpflichtend sprach. In seiner Gandhi-Biographie schreibt Erik Erikson (1978, 492): »Der Augenblick der Wahrheit ist plötzlich da – ohne Vorankündigung und flüchtig in seiner Stille.«
Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an die grundlegende Bedeutung von Dunkelheit, Stille und Eigen-Zeit, ohne die kreative Prozesse nicht möglich sind. Im Nicht-Tun, in der Ruhe liegt die Kraft. Dies gilt umso mehr für die Gegenwart, in der alles immer schneller und noch schneller gehen soll.
Es dürfte kein Zufall sein, dass Deutschland ein Land mit wenig Hoffnung und zugleich mit höchsten Geschwindigkeiten (z. B. auf Autobahnen) ist; zudem ein Land, in dem Stille und Dunkelheit nahezu ausgerottet sind. Nahezu jeder Winkel ist belärmt und ausgeleuchtet, wie auch nächtliche Aufnahmen aus dem Weltraum belegen. Es ist wohl auch kein Zufall, dass in immer mehr Einrichtungen, Hochschulen, Schulen, sogar schon Kindergärten, die Mitarbeiter/-innen mit immer mehr Formularen überschüttet werden. Aufgrund des überhandnehmenden Zeitdruckes kommen sie immer weniger zum Nachdenken über die wesentlichen Fragen: Was tun wir hier eigentlich?
Damit sind wir ein weiteres Mal beim Geist des Kapitalismus und der protestantischen Ethik. Wie Max Weber (2000, 124f.) belegt, ist Zeitdruck ein charakteristisches Merkmal dieser Haltung. Demnach dient nur Handeln dem Willen Gottes, nicht Muße oder Genuss. »Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden. (…) Zeitverlust durch Geselligkeit, ›faules Gerede‹, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis höchstens 8 Stunden – ist sittlich absolut verwerflich (…) Wertlos und eventuell direkt verwerflich ist daher auch untätige Kontemplation.«
Es liegt – gerade auch angesichts der Dringlichkeit, mit der die globalen Krisen sich zuspitzen – verführerisch nahe, auch im politisch-sozialen Handeln in hektischen Aktionismus zu verfallen. Aber wo könnte inmitten all dieses Getriebenseins die Kraft und Inspiration für sinnvolles Handeln herkommen? Wenn wir aus dem »Immer-mehr«-Land ausziehen
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