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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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ist geboren zu werden, ans Licht zu helfen.
    Erich Fromm
     
    Gegen die bisherigen Kapitel dieses Buches könnte pessimistisch eingewendet werden: Was bringt es schon, sich für Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung zu engagieren, ist es nicht schon viel zu spät? Inwieweit könnte ein solches Engagement Auswirkungen haben auf die Gesellschaft oder gar die Welt? Wäre es nicht vermessen zu erwarten, dass eine einzelne Person oder eine Gruppe einen nennenswerten Einfluss auf kollektiv-menschheitliche Lernprozesse haben könnte? Denn um nichts Geringeres geht es ja heute:
    Mit dem Immer-noch-Mehr, -Schneller, -Höher, -Weiter usw. fährt die Menschheit die Schöpfung gegen die Wand. Daher benötigen wir zukünftig ganz andere Konzepte zu leben und zu arbeiten; eine qualitativ veränderte Art und Weise, uns selbst und die Mit-Schöpfung wahrzunehmen und uns zu ihr zu verhalten. Denn nicht der Klimawandel ist das Problem, sondern »die globalisierte Industrie-Konsum-Zivilisation« (Grober 2010, 276), die den Klimawandel und die Zerstörung der Biosphäre erst hervorbringt. Wie könnten diese notwendigen Veränderungen geschehen – in der Kürze der noch verfügbaren Zeit?
    In den folgenden Kapiteln möchte ich, von verschiedenen Blickwinkeln aus, begründen, dass die Lage keineswegs hoffnungslos ist: Die Gegenwart ist voller Zukunft; sie ist wie eine Zeit der Schwangerschaft, in der ein neues Lebewesen heranwächst und danach drängt, in die Welt kommen zu dürfen. Die Voraussetzungen für eine friedliche, gerechte und naturbewahrende Welt – für Eine Welt – sind zu großen Teilen bereit. Die Ansätze für eine andere, gelingende Zukunft sind so deutlich, dass ein Jesaja II heute wohl ausrufen würde: »Seht her, hier wächst etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es denn nicht?!«

1. Drei Denkblockaden
    Dass wir das Neue oft – noch – nicht sehen können, liegt vor allem daran, dass wir die zu lösenden Aufgaben mit einer »falschen Brille« betrachten, die den Eindruck von Hoffnungslosigkeit erzeugt: nämlich mit einem mentalen Bewusstsein, das wie erwähnt »defizient«, überholt ist, Teil des Problems. Das ist, als ob wir eine dunkel getönte Brille aufsetzen und uns dann wundern, dass die Welt düster aussieht. Demnach empfiehlt es sich, die verdunkelnde Brille abzusetzen und die Aufgabe mit einem integralen Bewusstsein, Teil der Lösung, anzuschauen. Die verdüsternde Brille kommt in drei Ausführungen:
    Die Kausalitäts-Brille
    Zum Kern des westlichen, mentalen Bewusstseins gehört das Kausalitäts-Denken, welches wiederum auf »der starren Vorstellungswelt der mechanischen Physik« (Gebser 1988, 506f.) basiert. Dieses Denken beansprucht, die Abfolge von Ereignissen zu erklären, die aufeinander bezogen sind: A ist die Ursache für die Wirkung B. Wenn z. B. ein Fußball getreten wird (A), dann rollt dieser in jene Richtung (B). Die Vorrangstellung, die das Kausalitäts-Prinzip innerhalb des mentalen Bewusstseins innehat, wurde allerdings schon vor fast hundert Jahren durch die moderne Physik selbst relativiert. Etwa durch die Quantenphysik, die entdeckte, dass es grundlegende Abläufe gibt, die »akausal, unstetig, indeterminiert verlaufen.« (Gebser 1988, 507).
    Das Kausalitäts-Prinzip ist vor allem zu relativieren in Bezug auf Prozesse gesellschaftlicher Veränderung. Denn diese sind häufig viel zu komplex, als dass sie auf eine einzige Ursache A (oder auf eine überschaubare Zahl von Ursachen) und
deren Wirkung B reduziert werden könnten. Da es beim Thema Hoffnung um nichts weniger als kollektive Lernprozesse geht, haben wir es mit nicht weniger als ca. 7 Milliarden menschlichen Akteuren (plus weiteren Einflussfaktoren) zu tun.
    Angesichts dieser ungeheuer großen Komplexität mit milliardenfachen Ursachen und Wechselwirkungen verbietet es sich, gesellschaftliche Veränderungs-Prozesse allein mit der »Brille« des mentalen Bewusstseins und dessen Kausalitäts-Denken zu betrachten. Und doch geschieht dies alltäglich, etwa wenn eine politische oder soziale Aktion skeptisch hinterfragt wird: »Was bringt so was schon?« Die Antwort darauf kann nur lauten: »Das kann niemand vorhersagen.«
    Sofern naturwissenschaftliche Denkmodelle überhaupt geeignet sind, gesellschaftliche Prozesse zu beschreiben, dann ist dafür eher die Chaos-Theorie geeignet. Diese versucht etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts Systeme zu beschreiben, die sich aufgrund ihrer großen Komplexität

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