Die Kuppel des Himmels: Historischer Roman (German Edition)
Dach der Osteria.
»Herr, haben wir ein Gespenst gesehen?«, fragte Francesco, nachdem der Wirt die Tür hinter sich zugezogen hatte und sie sich notgedrungen das einzige Bett im Zimmer teilten.
»Bei Gott ist zwar nichts unmöglich, aber mir schien, dass er sich doch sehr irdisch bewegte, wenn ich die Muskelkontraktion, die sich unter seiner Haut abzeichnete, richtig deute. Gespenster benötigen zur Bewegung keine Muskelkraft. Mir schien der Junge eher verwirrt zu sein. Man sollte ihn finden, bevor er tatsächlich zu Tode kommt.«
»Ihr meint, das Ding war lebendig?«
»Wie du und ich!«
»Geb’s Gott!« Francesco bekreuzigte sich.
Michelangelo drehte sich auf die Seite und wandte seinem Diener den Rücken zu. Angekleidet lagen sie nebeneinander auf dem zweifelhaften Stroh. Über die hauseigenen löchrigen Decken hatten sie noch ihre Mäntel gebreitet. Dennoch froren sie, denn ein kühler Wind pfiff durch die Ritzen. Der Bildhauer schloss die Augen und wärmte sich an seiner Vorfreude auf den Marmor, den er in wenigen Stunden zu sehen bekommen sollte. Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte er sich sofort auf den Weg gemacht. Regen tröpfelte leise auf das Dach, und sie hörten das Heulen der Wölfe, gefährlich und wehmütig zugleich.
»Sie sind hungrig«, murmelte Michelangelo im Halbschlaf und gähnte.
»Gut, dass wir hier sind und nicht draußen in der Wildnis!«, erwiderte Francesco, der noch hellwach war. Aber er bekam keine Antwort.
»Herr«, begann der Diener von Neuem, »man sagt, hier soll es Werwölfe geben.«
»Wo gibt es die nicht? Werwölfe und Gespenster. Sie bevölkern die Nachtseite unseres Verstandes. Jetzt schlaf, Francesco, wir müssen schon bald wieder aufstehen«, brummte Michelangelo noch, bevor er endgültig in den Traum von einer Welt voller Marmor hinüberglitt. Makellos, weiß. Im alten Griechenland soll es eine Bildhauerstadt gegeben haben, Aphrodisias, da wäre er gerne einmal gewesen.
24
Colonnata, Anno Domini 1505
Die Sonne war kaum aufgegangen, als Michelangelo seinen Diener erbarmungslos weckte. Sie hatten nicht länger als drei, vier Stunden geruht.
»Auf! Der Tag rennt, sputen wir uns, ihn einzuholen!«, rief Michelangelo und eilte in die Wirtsstube hinunter. Zum Frühstück gab es Brot und Largo di Colonnata, den berühmten Speck, der hier hergestellt wurde, und als Getränk warmes Wasser mit etwas Honig.
Francesco hatte sein Mahl noch nicht ganz hinuntergeschlungen, da stand Michelangelo bereits vom Tisch auf, wechselte ein paar Worte mit dem Wirt und eilte aus der Tür. Francesco folgte seinem Herrn, den letzten Bissen Brot im Gehen kauend.
Kurz bevor sie ein verhältnismäßig großes Haus am Ende des Dorfes erreichten, schlug Michelangelo sein Wasser an einer Kiefer ab.
»Tu das auch, nachher haben wir keine Zeit mehr dafür«, befahl er seinem Diener, der dieser Aufforderung mit deutlichem Widerwillen nachkam. Derweil ließ Michelangelo seinen Blick von dem schwarzgrauen Kampanile, der wie ein Burgturm mit Zinnen bewehrt war, hinübergleiten zu den Bergen, die er nun das erste Mal im Hellen sah. Ihr Anblick erschütterte ihn, denn die Unergründlichkeit der steilen Hänge verhieß eine andere Welt, die Welt der großen Mutter, die in ihrem harten Schoß die herrlichsten Steine zur Welt brachte. Wie ein Blitzschlag durchfuhr ihn eine Erkenntnis, die dem Gehirn eines Architekten, nicht dem eines Bildhauers entsprang. Er sah die Kraftlinien, die Wege der Gewalten, die alle Gipfel in den Himmel schoben, ungeachtet der Bruchlinien, die zu Tälern wurden. Michelangelo griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Er erkannte mit einem Mal, dass er Kraft sehen konnte, und diese Fähigkeit würde er aushalten müssen. Die Kräfte kämpften gegen das ewige Lasten der Welt an und damit gegen die allgegenwärtige Tendenz, alles niederzudrücken. Was hatte Gott angesichts der Schöpfung zu ertragen gehabt, als er die Künste in seinem Weltenbau vereinte, die des Baumeisters, des Bildhauers und des Malers! Er hatte allem Gestalt, Form und Farbe gegeben.
In diesem Moment entdeckte Michelangelo das Geheimnis der Baukunst. Es war so verborgen wie offensichtlich. Fand sich das Mysterium der Bildhauerei in der Fähigkeit, die Figur im überflüssigen Stein zu entdecken und sie daraus zu befreien, das der Malerei darin, mithilfe der Zentralperspektive und der Nutzung von Licht und Schatten die dreidimensionale Welt auf dem zweidimensionalen Bildträger zu erschaffen, so ging
Weitere Kostenlose Bücher