Die Kurtisane des Teufels
Bahnen zu lenken. Kittys Gefühle waren nach Helens Tod und dem unverhofften Wiedersehen mit Daniel in solch wildem Aufruhr, dass sie meinte, den Verstand zu verlieren, wenn sie sich nicht beschäftigte. Doch es fiel ihr schwer, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Im Umgang mit den Freiern, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit erwarteten, musste sie sich zusammenreißen, damit sie nicht in Grübeleien versank.
Zum Glück lieferte Jack Sheppard genug Gesprächsstoff. Nach seiner erneuten Verhaftung hatte es die Obrigkeit eilig, ihn hinzurichten. In Massen besuchten Neugierige den Ausbrecherkönig in seiner Zelle, und Daniel Defoe ließ sich seine Lebensgeschichte erzählen, um sie in John Applebees Original Weekly Journal zu veröffentlichen. Am Tag von Sheppards Hinrichtung brachen allerorts Tumulte aus. In den Straßen von London brodelte es wie in einem Hexenkessel. Der Volkszorn richtete sich dabei nicht allein gegen die Obrigkeit, die den Liebling der Menschen an den Galgen brachte, sondern das erste Mal auch gegen Jonathan Wild, der ihn verhaftet hatte.
Kitty hatte gehofft, dass Daniel sie noch einmal aufsuchen würde, damit sie sich aussprechen konnten. Doch sie wartete vergeblich. Schließlich sah sie ein, dass sie den nächsten Schritt tun musste, und nahm sich vor, sobald die Tumulte abgeebbt und die Straßen wieder sicher waren, nach Covent Garden zu fahren. Dort hatte Daniel bei Meister Hearne Unterschlupf gefunden.
»Verzeiht die Störung, Madam«, sagte der Lakai John. »Ein Bote hat eine Nachricht gebracht. Er sagt, es sei dringend.«
Kitty nahm gerade mit Sam und ihren Mädchen im Speiseraum ein leichtes Frühstück ein, das aus geröstetem Brot, Muffins und einer Auswahl an Tee, Kaffee und heißer Schokolade bestand. Rasch überflog sie die wenigen Zeilen: »Wilds Männer haben Mr. Gascoyne verschleppt. Unternehmt nichts, bevor Ihr nicht von mir hört. Hearne.«
»Wo ist der Bote?«, fragte sie alarmiert.
»Er wartet in der Eingangshalle, Madam«, antwortete John.
Kitty warf ihr Mundtuch auf den Teller und eilte aus dem Speiseraum. Sam folgte ihr. Ein Knabe von etwa zwölf Jahren trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und blickte die junge Kurtisane verstört an.
»Was ist geschehen?«, fragte sie.
»Wir wohnen im selben Haus wie Meister Hearne«, berichtete der Junge. »Heute in aller Frühe drangen drei Männer in seine Wohnung ein und schleppten einen Mann fort, der seit einigen Tagen bei ihm übernachtet. Als Meister Hearne seinem Freund zu helfen versuchte, zog der Anführer ihm den Kolben seiner Pistole über den Kopf.«
»Gnädiger Gott!«, rief Kitty entsetzt. »Ist er schwer verletzt?«
»Die Wunde blutete stark«, erwiderte der Knabe. »Ich half ihm, sie auszuwaschen und zu verbinden. Dann schrieb er die Nachricht und bat mich, sie Euch zu überbringen.«
»Danke.«
Verzweifelt bemühte sich Kitty, die Tränen zurückzudrängen, die ihr in die Augen stiegen. Sie sah, wie Sam dem Knaben eine Münze für seine Mühe zuwarf. Als der Junge gegangen war, trat der Hüne an ihre Seite und schob sie in den Salon.
»Du bist ganz blass geworden. Setz dich. Ich schenke dir ein Glas Wein ein«, sagte er fürsorglich.
»Nein, ich kann mich jetzt nicht ausruhen«, widersprach sie erregt. »Ich muss Daniel helfen!«
Mit sanfter Gewalt drückte Sam sie auf das Sofa nieder. »Überlass das Meister Hearne.«
Zitternd presste sie die Hand auf den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Sam reichte ihr ein Glas Wein, das er aus einer bereitstehenden Karaffe gefüllt hatte.
»Glaubst du nicht, es ist an der Zeit, mir zu erklären, was hier vor sich geht?«, sagte er in einem Ton, der verriet, wie sehr er sich an den Rand gedrängt fühlte. »Dein Mann ist vorzeitig aus der Verbannung zurückgekehrt, nicht wahr? Was hat er verbrochen?«
Kitty schluckte schwer. Er hatte recht. Sie schuldete ihm Aufrichtigkeit. So knapp wie möglich erzählte sie ihm ihre und Daniels Geschichte. Während er zuhörte, verdüsterte sich Sams Gesichtsausdruck zunehmend. Schließlich erhob er sich und goss sich selbst ebenfalls ein Glas Wein ein.
»Ich bin in die Dachkammer gezogen, damit du Zeit hast, dich zu entscheiden, mit wem du fortan dein Leben verbringen willst. Aber nun glaube ich, dass es ein Fehler war. Dein Mann ist ein Gauner und ein Dieb, und wie es scheint, wird er das immer bleiben. Er verdient dich nicht.«
»Wie kannst du das sagen? Du kennst ihn nicht.«
»Ich kenne seinesgleichen.
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