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Die Kurtisane des Teufels

Die Kurtisane des Teufels

Titel: Die Kurtisane des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lessmann
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betrat die vordere Stube. Zögernd folgte Mary ihr. Im Zwielicht der einsetzenden Dämmerung konnte Kitty zuerst nur Unrat ausmachen, der auf dem Boden verstreut lag. Der Raum stank wie eine Kloake, aber da war noch ein anderer Geruch, den die junge Mutter nicht deuten konnte, der sie jedoch mit Unbehagen erfüllte.
    Erschrocken fuhr Kitty zurück, als sich unmittelbar vor ihr etwas bewegte und erneut das Wimmern erklang, das sie hergelockt hatte. Angestrengt versuchte sie, das Halbdunkel zu durchdringen. Als plötzlich etwas ihren Knöchel berührte, schrie sie auf, weil sie glaubte, eine Ratte sei ihr über den Fuß gelaufen. In Panik rannte Mary aus dem Raum. Ihre Furcht überwindend, sank Kitty in die Hocke. Eine eiserne Faust krampfte ihr Herz zusammen. Mittlerweile hatten sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, und sie konnte erkennen, was da vor ihr auf dem Boden lag. Es war eine Frau. Sie war fast nackt und bis auf die Knochen abgemagert. Ihr Lager war eine völlig durchlöcherte modrige Decke. Fassungslos sah Kitty sich um und entdeckte noch zwei weitere Gestalten, die ebenso ausgemergelt schienen. Keine von ihnen hatte mehr die Kraft, sich zu erheben.
    Die Frau, die ihr am nächsten lag, wandte Kitty ihr abgezehrtes Gesicht zu und streifte sie mit einem flehenden Blick. Hastig holte die junge Mutter den Penny-Laib hervor, den sie von dem Lohn für ihre Arbeit in einer Bratstube zurückbehalten hatte, und legte das Brot in die knochige Hand der Elenden.
    »Es tut mir so leid«, sagte sie, ohne recht zu wissen, wofür sie sich entschuldigte.
    Zitternd vor Entsetzen erhob sie sich und verließ den Raum. Mary wartete auf der Treppe.
    »Diese Frauen verhungern«, murmelte sie. »Sie sind nur noch Haut und Knochen.«
    Ohne zu antworten, wandte sich das Mädchen um und ging die Treppe hinauf. Im ersten Geschoss war alles ruhig. Vorsichtig erklommen die beiden jungen Frauen die geländerlose Stiege, indem sie sich nah an der Wand hielten. Eine Leiter führte vom zweiten Stock zum Dachgeschoss hinauf. Dort wurden sie von Joan begrüßt, einer Frau in den Vierzigern, die ebenso ärmlich gekleidet war wie Kitty. Mary stellte sie einander vor. Joans Gesicht verdüsterte sich, als sie Helen sah.
    »Der arme Wurm«, sagte sie kopfschüttelnd. »Wie alt ist die Kleine?«
    »Drei Monate«, erwiderte Kitty, während sie Helen auf dem Schal absetzte, mit dem sie sie auf dem Rücken trug. Obwohl sie bei einer Magd, die eine Eselin durch die Straßen führte, ein Stück Brot gegen etwas Milch eintauschen konnte, bevor sie sich mit Mary getroffen hatte, war Helen bereits wieder hungrig. Kitty blieb nichts anderes übrig, als ihr den Zipfel des Schals in den Mund zu stecken, an dem sie sogleich gierig saugte.
    »Ein Jammer«, murmelte Joan und schüttelte erneut den Kopf. Sie schien überzeugt, dass Kitty die Kleine nicht durchbringen würde.
    »Die Frauen im Erdgeschoss sind dem Hungertod nahe«, bemerkte Kitty, um von ihrer Tochter abzulenken.
    »Normalerweise arbeiten sie auf dem Markt von Covent Garden als Lastenträger«, berichtete Joan. »Ich glaube, sie wohnen schon seit Monaten hier.«
    »Wie sind ihre Namen?«
    »Eine der beiden heißt Liz, soviel ich weiß. Den Namen der anderen kenne ich nicht.«
    »Aber es sind drei Frauen.«
    »Von einer dritten weiß ich nichts. Ich habe ihnen öfter etwas zu essen gebracht, wenn ich einen Rest übrig hatte. Liz und ihre Freundin sind schon seit einiger Zeit krank, deshalb können sie nicht mehr arbeiten.«
    Inzwischen war es in der Mansarde stockdunkel geworden. Kitty konnte die Gesichter der anderen nicht mehr erkennen. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach Helen, die eingeschlafen war.
    »Ist Mary deine Tochter?«, fragte sie Joan.
    »Nein, ich habe mich ihrer angenommen, als ich sie eines Abends in einem Hauseingang schlafend fand. Die Arme hat keine Familie mehr. Ihre Mutter starb kurz nach ihrer Geburt, ihr Vater, als sie sieben Jahre alt war. Eine Tante kümmerte sich bis zu ihrem Tode um sie, dann stand Mary auf der Straße.«
    An dieser Stelle nahm das Mädchen den Faden der Erzählung auf. »Fünf Jahre habe ich für eine Näherin gearbeitet, doch als ich krank wurde, entließ sie mich. Die Armenpfleger des Sprengels, in dem mein Vater gelebt hat, wiesen mich ab, und so blieb mir nichts anderes übrig, als betteln zu gehen.«
    »Hat man dir nicht gesagt, dass du durch deine Arbeit bei der Näherin deinen gesetzlichen Wohnsitz im dortigen Sprengel erworben hast und

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