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Die Kurtisane des Teufels

Die Kurtisane des Teufels

Titel: Die Kurtisane des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lessmann
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damit auch ein Anrecht auf Armengeld?«, fragte Kitty, die sich an ihr Gespräch mit dem Friedensrichter im Arbeitshaus erinnerte.
    »Nein, das wusste ich nicht.«
    »Du solltest dich gleich morgen früh an die Armenpfleger wenden. Lass dich nicht von ihnen abwimmeln. Sie sind verpflichtet, dich zu unterstützen.«
    »Wenn das stimmt, wäre es ein Segen für das Mädchen«, meinte Joan. »Ich werde wohl besser mit ihr gehen.«
    Müdigkeit überkam die Frauen und ließ sie allmählich verstummen. Kitty zog ihre Schuhe aus und legte sich auf den Holzfußboden. Zuerst wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Obwohl sie es mittlerweile gewöhnt war, auf hartem Untergrund zu ruhen, fiel es ihr an diesem Abend schwer, eine einigermaßen bequeme Stellung zu finden. Nachdenklich lauschte sie auf die Geräusche des Hauses. Es war nicht das leise Knarren der sich biegenden Balken, wie sie es aus dem Fachwerkhaus in Clerkenwell kannte, sondern ein seltsames Knirschen und das rieselnde Geräusch von herabfallendem Putz. Als Kitty endlich in Schlaf sank, quälten sie beängstigende Alpträume. Sie sah sich umgeben von einem Meer knochiger Arme, deren skelettierte Finger sich nach ihr ausstreckten, sich in ihren Rocksaum krallten, sich kalt um ihre Knöchel legten und sie zu Fall brachten. In Panik versuchte sie, sich zu befreien, die Knochenhände zurückzuschlagen, doch es gelang ihr nicht. Totenschädel wandten sich ihr zu, lebendige flehende Augen in den leeren Höhlen, die sie stumm anstarrten. Von Angst und Schrecken erfüllt, riss Kitty Helen an sich, doch als sie in ihr Gesicht blickte, sah sie einen mit pergamentartiger Haut überzogenen Totenkopf. Schreiend fuhr Kitty aus dem Schlaf. Zuerst fiel es ihr schwer, sich zu orientieren. Wo war sie? In der Beuge ihres rechten Armes lag Helen und greinte. Durch die zerbrochenen Scheiben der Fenster fiel das malvenfarbene Licht der Morgendämmerung herein und erhellte die Mansarde. Verwirrt blickte Kitty sich um. Nicht weit von ihr schliefen Joan und Mary.
    Kitty verspürte unerklärliche Angst. War es die Nachwirkung des Alptraums, der sie so sehr aus der Fassung brachte? Nein, da war noch etwas anderes. Etwas stimmte nicht! Der Boden unter ihr vibrierte leicht, dann immer stärker. Ein lautes Knirschen war zu hören und das Splittern von Holz. Erschrocken umklammerte Kitty ihre Tochter und sprang auf die Füße.
    »Wacht auf!«, schrie sie. »Das Haus stürzt ein!«
    Die beiden Frauen erwachten, gerade als die Fassade des Gebäudes zur Straße hin wegsackte. Unter ohrenbetäubendem Getöse tat sich vor ihren Füßen ein Spalt auf, als die Holzbohlen zersplitterten und der Boden mit in die Tiefe gerissen wurde.
    »Zurück zur Wand!«, rief Kitty.
    Geistesgegenwärtig krabbelte Joan auf allen vieren in ihre Richtung, doch Mary schaffte es nicht mehr. Der Boden brach unter ihr weg. Es gelang ihr gerade noch, die Arme auszustrecken und sich mit den Händen an den gesplitterten Holzbohlen festzuklammern. Sie war so erschrocken, dass sie nicht einmal um Hilfe rufen konnte.
    Helen noch immer im Arm, stürzte Kitty an den gähnenden Abgrund, warf sich auf die Knie und streckte dem Mädchen die Hand entgegen.
    »Schnell, fass zu! Ich ziehe dich rauf.«
    In Marys Augen stand blankes Entsetzen. Zuerst schien es, als sei sie zu verstört, um Kittys Anweisung zu gehorchen, doch dann löste sie eine Hand von dem geborstenen Holz und umklammerte die Finger ihrer Retterin.
    »Joan, nimm Helen!«, befahl Kitty.
    Mit nur einer Hand konnte sie Mary unmöglich nach oben helfen. Schon zog das Gewicht des Mädchens sie näher an den tödlichen Abgrund, von dem Wolken von Gips- und Mörtelstaub wie Rauch aufstiegen und das Atmen beschwerlich machten.
    »Joan!«, schrie Kitty noch einmal.
    Endlich gelang es der Angesprochenen, ihre Lähmung abzuschütteln. Ängstlich trat sie neben Kitty und nahm ihr das Kind aus dem Arm. Rasch legte sich diese auf den Bauch und ergriff auch Marys andere Hand. Zu ihrem Schrecken stellte die junge Mutter fest, dass sich der Fußboden zu neigen begann. Es konnte nur Augenblicke dauern, bis ihr Körper unter dem doppelten Gewicht ins Rutschen kommen würde und sie mit Mary in den stauberfüllten Abgrund stürzte.
    »Joan, hilf mir!« In Kittys Stimme mischte sich Panik. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf strömte und in ihren Ohren rauschte. Ihre Kopfhaut, ihr Gesicht begannen unter dem Blutfluss zu pochen. Ihr Körper verlor den Halt und glitt langsam nach vorn

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