Die Kurtisane des Teufels
brachte ein Nachtwächter eine junge Frau in ärmlicher Kleidung in die Wachtstube. Das tief ausgeschnittene Mieder und das einzelne rote Seidenband, mit dem sie ihr hellbraunes Haar geschmückt hatte, wies sie als Straßendirne aus. Ihr Gesicht war gerötet, und sie wehrte sich erbittert gegen den Ordnungshüter, der sie mit Gewalt in den Empfangsraum schob.
»Lass mich los, Mistkerl! Du hast kein Recht, mich anzufassen. Kein Recht …« Ihre Stimme versagte, und sie brach in Tränen aus. Es war offensichtlich, dass sie stockbetrunken war.
Der Wachthauspächter fragte das Straßenmädchen nach ihrem Namen, doch dieses beschimpfte ihn schluchzend.
»Bring sie runter in die Zelle«, befahl Dick schließlich. »Vielleicht kommt sie bis zum Morgen wieder zur Vernunft.«
Unsanft zerrte der Nachtwächter die Frau zur Treppe, die in das Untergeschoss führte. Kurz darauf kehrte er zurück, hob Laterne und Stab auf, die er an der Tür abgestellt hatte, und rief den Anwesenden noch einen Gruß zu, bevor er in die Dunkelheit hinaustrat.
Der Bettler und der Schriftsteller plauderten stundenlang miteinander, erzählten witzige Anekdoten und tragische Erlebnisse, bis die Müdigkeit sie schließlich übermannte und im Sitzen einnicken ließ, benebelt vom Bier und angenehm durchwärmt vom knisternden Kaminfeuer. Kitty, die an die Züchtigung dachte, die sie am Morgen erwartete, fand dagegen keine Ruhe.
Um halb fünf wurde die Tür aufgeworfen, und alle Anwesenden schreckten aus ihrem Dämmerschlaf auf. Bill, der Nachtwächter, der Kitty aufgegriffen hatte, trat sichtlich mitgenommen über die Schwelle. Er hielt den leblosen nackten Körper eines etwa vierjährigen Knaben im Arm.
Dick und der Konstabler der Nacht eilten ihm entgegen und nahmen ihm die traurige Last ab.
»Was ist passiert?«, fragte Dick, während er das Kind auf die Bank legte und mit der Hand nach einem Herzschlag tastete. Doch der Knabe war tot. Mit düsterer Miene deutete der Konstabler auf den Hals des Jungen.
»Er ist erwürgt worden.«
Aller Augen richteten sich auf Bill, der mit hängenden Schultern und verstörtem Gesicht in der Mitte der Trinkstube stand und den Kopf schüttelte, als versuche er, die schreckliche Wahrheit zu leugnen.
»Es war die Mutter«, murmelte er.
»Was?«, rief Dick entgeistert.
»Ich kam dazu, als sie gerade ihre Untat ausgeführt hatte«, berichtete Bill erschüttert. »Eine Anwohnerin sah, wie die Mutter ihrem toten Sohn die Kleider auszog, und versuchte, sie festzuhalten, doch die Frau riss sich los und entkam. Die Gevatterin erzählte mir, dass der Name der Frau Margaret Mosse sei und dass sie sie recht gut kenne. Vor einiger Zeit gab Mosse den Jungen ins Arbeitshaus, weil sie nicht mehr für ihn sorgen konnte. Mosse sei eine Säuferin, die jeden Penny für Gin ausgibt, berichtete die Alte. Als sie kein Geld mehr für Fusel hatte, muss sie ihren Sohn aus dem Arbeitshaus geholt haben. Das Kind ist dort neu eingekleidet worden. Die Gevatterin hat die beiden kurz vorher noch die Straße entlanggehen sehen. Auf ihrem Rückweg überraschte sie die Mutter dann dabei, wie sie den Leichnam ihres Sohnes entkleidete.«
»Allmächtiger!«, entfuhr es dem Schriftsteller. »Diese Frau hat ihr Kind umgebracht, um seine Kleider zu stehlen? Warum?«
»Um sie zu verpfänden und sich von dem Erlös Gin zu kaufen, vermute ich«, entgegnete Dick sarkastisch. »Manche Menschen begehen die schlimmsten Untaten, um ihre Trunksucht zu befriedigen. Aber eine Mutter, die dafür ihr Kind umbringt … Das ist mir noch nicht untergekommen. Der Genever muss sie um den Verstand gebracht haben.«
Der Konstabler bat Dicks Frau um eine Decke, die er über den toten Knaben breitete. Bei Morgengrauen würde er den Leichenbeschauer benachrichtigen und Erkundigungen nach der flüchtigen Kindsmörderin einholen.
In der Trinkstube des Wachthauses war es still geworden. Niemand wollte noch weiter über das schreckliche Geschehen sprechen, doch das Thema zu wechseln wagte auch keiner. Kitty hatte ihre Tochter unwillkürlich fest an sich gedrückt und betrachtete das schmale blasse Gesichtchen mit der kleinen Stupsnase und den von langen Wimpern gesäumten Lidern. Einst hatte auch der tote Knabe in den schützenden Armen seiner Mutter gelegen, und sie hatte ihn vermutlich ebenso liebevoll angesehen. Vielleicht war Margaret Mosse vor vielen Jahren wie Kitty aus der Provinz nach London gekommen, um ihr Glück zu suchen. Ein Mann hatte sie geschwängert und
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