Die Lady auf den Klippen
Jemand trat ihr auf die Hand. Schmerz durchzuckte sie, und sie brach zusammen. Ihre Mutter hörte nicht auf zu schreien.
„Hab dich!“
Sie presste die Hände auf die Ohren. Irgendetwas Schreckliches passierte mit Mama, und sie wusste es. Blanche gab auf, rollte sich zusammen. Bitte aufhören, bitte aufhören, dachte sie verzweifelt. „Mama, Mama, bitte aufhören, bitte aufhören, Mama, bitte aufhören!“ Sie war starr vor Entsetzen, sprach den immer gleichen Satz in einer Art vor sich hin, bis ihre eigene Stimme die Schreie ihrer sterbenden Mutter übertönte und die Rufe der Männer, die sich an ihrem Sterben erfreuten.
„Bitte aufhören“, flüsterte sie, und plötzlich bemerkte sie, dass die Pflastersteine verschwunden waren und auch die Schreie ihrer Mutter.
Blanche blinzelte. Sie war nicht mehr auf den Straßen Londons, und sie war auch nicht mehr sechs Jahre alt. Aber sie hatte Angst aufzuhören, hin und her zu schaukeln, und der Singsang war eine Art beruhigendes Gebet geworden. Sie wusste, sie war eine erwachsene Frau, und dass sie in Land’s End war. Sie war noch immer so starr vor Angst, dass es ihr egal war. Und sie wagte nicht aufzuhören. Sie wagte nicht, aus der hinteren Ecke des Schlafzimmers aufzustehen, wo sie jetzt zusammengekauert saß.
Die Monster lauerten in den morgendlichen Schatten, warteten nur darauf, zurückzukommen.
Und sie schaukelte und sang noch eine lange Zeit, erfüllt von Verzweiflung.
„Mylady, warum haben Sie mich nicht gerufen? Ich hätte Ihnen beim Ankleiden geholfen, aber Seine Lordschaft hat gesagt, Sie sollten nicht gestört werden!“, rief Meg.
Blanche stand vor dem offenen Schrank, der größtenteils leer war, denn sie hatte die meisten ihrer Kleider herausgenommen und alles aufs Bett gelegt. Seine Lordschaft – Sir Rex. Sie wollte nicht über ihn nachdenken, nicht jetzt. Es fiel ihr schwer, bei Verstand zu bleiben, aber gewiss war das nur vorübergehend. Sie drehte sich zu Meg um und lächelte.
Die Zofe sah sie aus großen Augen an. „Mylady?“
Nie zuvor war Blanche so ruhig gewesen, so gefasst – oder so weit entfernt von allem. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand eine geheimnisvolle Droge gegeben, oder als triebe sie auf einem ruhigen, friedlichen See. Es war egal. In ihrem Innern hatte sie einen ruhigen und sicheren Ort gefunden, und nichts würde daran je etwas ändern können. Doch jeder Schritt musste achtsam geplant sein. Sie war sich nur zu sehr darüber im Klaren, dass sie am Rand eines Abgrunds stand.
„Guten Morgen, Meg“, sagte sie ruhig. Sie sah Sir Rex’ Bild vor sich, die Augen dunkel und kühn, aber sie schob es beiseite. Sie durfte jetzt nicht an ihn denken. Es würde wehtun, und Gott allein wusste, was geschah, wenn sie sich erlaubte, Schmerz zu empfinden. Sie wollte das nicht. Jeder andere Weg war gefährlich und bedrohlich. „Kannst du rasch zu Ende packen? Ich werde Anweisung geben, dass die Kutsche vorgefahren wird.“
Reglos starrte die Zofe sie an.
„Bitte, Meg, beeile dich“, sagte Blanche ruhig.
„Wir brechen auf?“ Meg war fassungslos. „Aber – was ist mit Sir Rex? Mylady, geht es Ihnen gut? Sie wirken – so seltsam.“
„Es geht mir gut“, erwiderte Blanche. Sie trat zu ihrem Nachttisch und schenkte sich mit ruhigen Bewegungen ein Glas Wasser ein. „Ich fürchte, ich muss mit Seiner Lordschaft brechen.“
Da – es war besser, seinen Namen nicht auszusprechen, sonst könnte sie nicht das tun, was sie geplant hatte. Keine Freude war den Schmerz und die Angst wert. Keine Leidenschaft war diesen Schmerz wert. Es hatte alles mit ihrer Ankunft in Land’s End begonnen. Sie würde dem Ort nicht die Schuld geben, und auch nicht ihrem Gastgeber, auch wenn beide wichtige Faktoren in ihrem Wahnsinn waren. Auf Bodenick war die Frau in ihr geweckt worden, Körper, Herz und Seele, aber sie konnte sich ihren Gefühlen nicht hingeben. Denn auf eine seltsame Weise hatten ihre Gefühle sie zu diesen schrecklichen, vergessenen Erinnerungen geführt. Und diese Erinnerungen hatten ihr den Verstand geraubt.
Sie würde nicht in Land’s End bleiben, nicht nach dem, was sie an diesem Morgen durchlebt hatte. Jetzt konnte sie es nicht mehr erwarten abzufahren. Was immer in den letzten anderthalb Wochen geschehen war, es war vorüber. Alles. Sie hatte Ruhe gefunden. Das war es, was sie wollte. Nie wieder wollte sie so etwas erleben. Für den Rest
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