Die Lady auf den Klippen
sie musste keinen Fuß in das Herrenhaus setzen, um zu wissen, dass sie hier nicht bleiben würde.
Ihre Kutsche hielt an. Blanche wartete auf ihren Diener und stieg aus, trat zu Sir Rex, der abgesessen war und sich umsah. Vom vorderen Hof aus sah sie überall Misthaufen und einen Karren, der auf dem Weg liegen gelassen worden war, der zur Vordertür führte. Im Wasserbecken der Fontäne lag Abfall. Nicht nur stand das Wasser still, die Figur in Fischform, aus der die Fontäne sprudeln sollte, war völlig zerbrochen. Zur Linken sah sie einen kleinen Gemüsegarten. Sie verzog das Gesicht. Wie hatte ihr Vater das Anwesen in diesem Zustand hinterlassen können? Er war sehr gewissenhaft gewesen, wenn es um seinen Besitz ging. Sie konnte nicht glauben, dass er Pächter behielt, die sich so wenig um das Haus kümmerten.
Sir Rex kam auf sie zu. „Hier werden Sie nicht bleiben.“ Sein Tonfall klang energisch.
Blanche verzog noch immer das Gesicht. „Offensichtlich nicht.“ Sie zögerte. „Ich ahnte ja nicht – es ist grauenvoll.“
„Es ist abgerissen“, sagte er abrupt. „Das Anwesen geht mich nichts an, aber wenn ich solche Pächter hätte, würde ich den Pachtvertrag kündigen.“
Blanche schwieg und dachte an die beiden kleinen barfüßigen Jungen.
Mit festem Blick sah er sie an. „Sie waren lange unterwegs von London bis hierher. Sie können auf Bodenick bleiben, solange Sie möchten.“
Sie war überrascht. „Ich kann mich Ihnen unmöglich aufdrängen.“
„Warum nicht?“
Ehe sie etwas sagen konnte, hinkte er zur Vordertür. Blanche folgte ihm und blieb dann hinter ihm stehen. Eine Frau mit einem Baby an der Brust öffnete. Sie sah die beiden erstaunt an.
„Dies ist Lady Harrington“, erklärte Rex. Er beachtete den Säugling mit keinem Blick. „Ich bin Sir Rex de Warenne of Land’s End and Bodenick. Wo ist Ihr Ehemann?“
Überrascht löste die Frau das Kind von ihrer Brust und schloss ihr Kleid. „Er ist im Stall oder vielleicht auch draußen auf dem Feld beim Pflügen.“
„Rufen Sie ihn bitte. Wir möchten mit ihm reden.“
Die Frau drehte sich um. „James! Geh und hol deinen Vater! Sag ihm, hier sind ein Lord und eine Lady. Beeil dich!“
Blanche blickte an Rex vorbei. Sie hatte solches Elend in London gesehen. Während sie bei den Schwestern von St. Anne’s half, hatte sie einige sehr arme und kranke Frauen in ihren Häusern betreut. Aber dieses Haus sah aus, als wäre es seit Jahren nicht mehr ausgebessert worden. Der Holzboden in der Diele vorn löste sich stellenweise oder fehlte vollkommen, es gab nur wenig Möbel, und von den Wänden, die zum Teil schwarz waren, blätterte die Farbe ab. Jetzt entdeckte Blanche zwei kleine Mädchen und einen der Jungen, die sie vorhin gesehen hatte. Der Junge, der losgelaufen war, um seinen Vater zu holen, war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Die drei Kinder, die hinter der Mutter standen und sie ansahen, waren vermutlich zwischen zwei und acht Jahren alt. Sie hatten große Augen und spitze Gesichter.
Diese arme Familie brauchte dringend Hilfe. Sie griff nach Sir Rex’ Hand. Erschrocken sah er sie an.
Blanche ließ den Arm sinken, doch sie sah ihm in die Augen. Es musste etwas getan werden.
„Mylord, Mylady!“, rief ein Mann außer Atem hinter ihnen.
Blanche drehte sich gleichzeitig mit Sir Rex um. Ein großer magerer Mann eilte auf sie zu, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Sofort verbeugte er sich.
„Und Sie sind?“, fragte Sir Rex.
„Mein Name ist Jack Johnson, Mylord.“
„Sir Rex de Warenne, und dies ist Lady Blanche Harrington.“
Der Mann blinzelte. „Bitte kommen Sie herein. Bess, mach uns etwas Tee.“
Die Frau eilte davon.
„Bitte, wir brauchen keinen Tee oder etwas anderes“, sagte Blanche entschlossen. Sie wollte ihnen nicht noch ihre kläglichen Vorräte rauben. „Ich bin nur gekommen, um das Anwesen zu sehen.“
Nervös zupfte der Mann an seinem Kragen. „Wollen Sie es kaufen? Sind Sie deshalb gekommen?“
Blanche erschrak. „Mein Vater ist verstorben, Mr Johnson, und ich habe erst kürzlich erfahren, dass dieses Anwesen zu meinem Erbe gehört.“
Johnson trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Wir sind gute Leute, Mylady. Aber …“ Er unterbrach sich.
Sir Rex starrte den Mann an. Offensichtlich war das in seinen Augen keine Entschuldigung für das Durcheinander.
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