Die Lady in Weiß
verhalten, aber sie konnte es nicht. Sie fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Alle Freude, all das Vergnügen, das sie tagsüber empfunden hatte, war verflogen.
„Warum tust du mir das an?“, fragte sie verzweifelt. „Ich habe dir doch nichts getan, oder? Ich versuche mich daran zu erinnern, dass du immer freundlich zu mir warst - schließlich warst du sogar einverstanden, mit mir nach Neapel zu reisen - und dass du wahrscheinlich auch wieder freundlich zu mir sein wirst. Aber im Moment machst du es mir beinahe unmöglich, dich auch nur nett zu finden.“
„Dann lass es einfach“, sagte er grob. „Dadurch wird vieles für uns leichter werden.“
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Was könnte dadurch denn leichter werden?“
„Lieber Himmel, Caro, denk doch mal nach!“ Er strich sich mit der Hand übers Haar. Offensichtlich suchte er nach Worten. „Du versuchst daran zu denken, wie freundlich ich zu dir war, und ich versuche, nicht zu vergessen, dass du mit einem anderen Mann verheiratet bist! “
„Aber das hat doch nichts mit uns zu tun! Ich liebe Frederick viel zu sehr, um ... “
Sie verstummte, verwirrt von der Sehnsucht, die sie in seinen Augen sah.
„Du liebst ihn zu sehr, um was zu tun, Caro?“, fragte er. „Um was mit mir zu tun?“
Sie errötete und schüttelte den Kopf. „Was du willst, kann ich dir nicht geben. Selbst wenn - wenn ich es wollte, ich kann nicht. Ich habe nicht das Recht dazu.“
Er ließ sie so überraschend los, dass sie nach der Reling griff, um das Gleichgewicht zu halten. „Bei Gott, ich habe nie eine Frau - und schon gar keine verheiratete Frau - zu etwas gezwungen, was sie nicht wollte, und ich werde nicht... “
„Du hast mich nicht verstanden!“, rief sie aus. „Ich rede von meiner Seele, meiner Treue. Frederick hat mir zusammen mit seiner Liebe so viel gegeben, dass ich ihm gehöre!“
„Deine Seele gehört deinem Ehemann?“, fragte er ungläubig.
Sie konnte nicht mit ihm streiten. Sie wusste, dass er sie sowieso nicht verstehen würde. „Warum wolltest du, dass ich mitkomme?“
„Warum?“ Diese eine Frage rührte an so vieles, dass er nicht gleich die Worte fand, um es ihr zu erklären.
Warum? Weil er ihre Beziehungen brauchte, um Davids Freilassung zu erwirken? Weil ihr George Stanhope noch mehr Leid zufügen würde, wenn er nicht da war, um sie zu verteidigen? Weil sie einsam war, weil er ihre Sehnsucht nur zu gut verstehen konnte? Weil sie ihn brauchte, weil sie ihn wieder an die Zukunft glauben ließ, ihm Selbstvertrauen gab?
Es stimmte alles. Und doch stimmte gar nichts. Sollte er ihr wirklich die Wahrheit sagen?
Sie stand da und wartete.
„Weil“, sagte er heiser, „ich bei dir sein will, wenn Frederick nicht mehr ... “
„Nein, Jeremiah, sprich es nicht aus!“, rief sie. „Ich bitte dich! “ Sie wandte sich schnell ab und lief davon, ehe er ihre Tränen sehen konnte. Ihre schwarzen Röcke wehten im Wind vor dem blutroten Licht der untergehenden Sonne.
Jeremiah blickte über die Reling auf das schäumende Kielwasser der Raleigh. Immer wieder hatte er sich dabei ertappt, wie er zu den Masten hinauf schaute oder den Wind abschätzte, als sei er der Kapitän des Schiffes.
Hinter sich hörte er das Glockenläuten, das den Wachwechsel ankündigte. Wie lange stand er hier wohl schon? Inzwischen war die Sonne untergegangen, und der Mond stand hoch am Himmel. Jeremiahs Arme waren steif geworden, und der kalte Wind vom Meer ließ ihn den alten Schmerz in seiner Narbe wieder spüren.
Eigentlich hatte er nur so lange an Deck bleiben wollen, wie Caro brauchte, um sich auszukleiden und sich in die Koje zurückzuziehen. Und einzuschlafen. Wenn sie schlief, dann musste er nicht mit ihr sprechen oder sich entschuldigen oder sonst irgendetwas tun, damit zwischen ihnen wieder alles ins Reine kam. Wie sie auf dem engen Raum taktvoll miteinander umgehen sollten, hätten sie schon früher besprechen sollen, aber er hatte es immer wieder hinausgeschoben, bis es nach dem Gespräch an diesem Abend unmöglich geworden war.
Drei Wochen würde er jetzt jede Nacht mit ihr allein sein. Drei Wochen lang würden sie einander quälen, ob sie wollten oder nicht.
Er seufzte und gähnte dann. Es war höchste Zeit, dass er unter Deck ging und sich schlafen legte, sonst würde er morgen früh noch schlechtere Laune haben.
„Sie sind noch auf, Mr Sparhawk?“ Bertie kam heran und stellte sich neben Jeremiah. Er hielt eine Hand schützend vor seine
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