Die Lady in Weiß
sollten mit der nächsten Flut auslaufen, und am Kai wimmelte es von Menschen. Frachtgut und Versorgungsgüter wurden an Bord gehievt oder gerollt, Seeleute nahmen tränenreichen Abschied von Ehefrauen oder Geliebten, Kaufleute gaben dem Kapitän oder dem Maat letzte Anweisungen.
Die Taverne in der Nähe war ebenfalls voller Menschen. Der größte Teil beider Besatzungen ergriff die letzte Gelegenheit, sich vor der langen Reise noch einmal gründlich zu betrinken. Einige hatten ihre Krüge mit nach draußen genommen und saßen auf Bänken im warmen Sonnenschein. Sie sangen und fluchten und machten jeder Frau das Leben schwer, die zu nahe an ihnen vorbeiging. Krieg drohte, und das Leben war gefährlich. Wenn ihre Schiffe im Ärmelkanal von einer schlecht bemannten Fregatte angehalten wurden, konnte jeder von ihnen noch bei Einbruch der Dunkelheit im Dienste der Marine stehen. Grund genug, sich zu betrinken und ein letztes Mal den Mädchen nachzurufen.
Die Seeleute beobachteten neugierig die Ankunft der Kutsche, und als die Tür geöffnet wurde, beugten sie sich vor, um die aussteigenden Passagiere besser sehen zu können. Der Fuß, der zu sehen war, als die Lady beim Aussteigen die Röcke hob, war klein und schmal und einen bewundernden Ausruf wert, aber die Lady selbst war in tiefer Trauer. Ihr dichter Schleier ließ selbst an diesem sonnigen Tag nichts von ihrem Gesicht sehen. Sofort blickten die Seeleute zur Seite, die frommen unter ihnen bekreuzigten sich. An dem Tag, an dem sie fortsegelten, wollte keiner von ihnen an Kummer und Tod erinnert werden.
Die Lady stützte sich schwer auf den Arm des Kutschers, ihr Kopf neigte sich unter dem Hut mit dem Schleier. Dann stieg der andere Reisende aus, ein großer, schwarz gekleideter Gentleman, der finster dreinblickte. Er nahm ihre Hand, und sie lehnte sich schutzsuchend gegen ihn. Während sie langsam zum Anlegesteg hinunterschritten, wich jeder, Seeleute, Kaufleute und Hafenarbeiter, vor ihnen zurück und zog respektvoll den Hut.
„Das gefällt mir nicht, Jeremiah“, flüsterte Caro unter dem Schleier. „Mich hinter Trauerkleidern zu verstecken, während ich doch hoffe, Frederick lebend wiederzufinden, ist sicher nicht richtig. “
„Halte durch, Caro, mach dir keine Gedanken.“ Jeremiah tätschelte ihre Hand. „Das ist nichts als Aberglaube, ganz einfach.“
„Aber er wollte nie, dass ich Schwarz trage! Weiß, immer nur Weiß! Er sagte, dass ich nicht einmal Trauer tragen solle, wenn ich ihn überlebe, und ich ... “
„Caro, jetzt hör auf damit, sonst wirst du Frederick ganz sicher nie mehr Wiedersehen! “
Er musste sie nicht daran erinnern. Desiree hatte ihr den Steckbrief des Straßenräubers gezeigt, und Caro hatte Zeit genug gehabt, diese List, mit der sie George hatte täuschen wollen, zu bereuen. Aber schlimmer als Jeremiahs Warnung erschien ihr der Ton, in dem er mit ihr sprach. Er gab ihr Be-fehle, als sei sie sein niedrigster Matrose. Das tat weh. Obwohl sie in den vergangenen Wochen in Desirees Haus niemals allein gewesen waren, hatte sie doch gedacht, dass ihre Beziehung über dieses Stadium hinausgewachsen wäre. Sie dachte, sie seien Freunde geworden, und ein Freund hätte verstanden, warum sie so sehr darunter litt, Schwarz tragen zu müssen. Während sie darüber nachdachte, wie sie wieder ein gutes Verhältnis aufbauen könnten, gingen sie stumm den Kai entlang, an dessen Ende die Raleigh festgemacht hatte.
„Dieses kleine Boot soll uns nach Neapel bringen?“, flüsterte sie angstvoll.
„Sie ist nicht groß, da hast du recht, aber sie sieht intakt aus“, gab Jeremiah schroff zurück. Er wünschte, er hätte sie nicht so angefahren, aber wenn sie über Frederick sprach, wurde ihre Stimme bei jedem Wort immer lauter und ängstlicher, und irgendjemand hätte sie hören können. „Wichtig ist, wie das Schiff im Wind liegt.“
„Vermutlich hast du recht.“ Sie blieb stehen und sah zum Hauptmast hinauf. Mit ihrer schwarz behandschuhten Hand hielt sie den Hut fest. „Nur ist Neapel so weit weg, und ich hatte mir ein imposanteres Schiff vorgestellt. Das Schiff, mit dem Frederick reiste, war zweimal so groß.“
Beinahe hätte er sie daran erinnert, wohin dieses Schiff Frederick gebracht hatte, aber klugerweise tat er es nicht. Stattdessen tätschelte er noch einmal ihre Hand. Er hatte kein Recht, sich über ihre Zweifel lustig zu machen, wenn seine eigenen Ängste ihn fast erdrückten. Er fragte sich, ob sie dasselbe dachte wie
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