Die Lady in Weiß
den er nicht kannte.
Sie seufzte und bewegte sich im Schlaf, und er nahm ihren Duft nach Jasmin und Moschus wahr. Auf Desirees Ratschlag hin hatten sie ihre eigene Bettwäsche mitgenommen, und Caros Kissen war mit feiner Spitze verziert, die genau zu ihrem seidigen blonden Haar passte. Obwohl der zarte Kissenbezug in der kleinen Kabine mit ihrem groben dunklen Holz seltsam unpassend wirkte, war Jeremiah doch froh, dass sie ihn mitgebracht hatte. Frederick hatte recht: Helle Farben gehörten einfach zu ihr.
Er beobachtete sie noch immer, während er seinen Mantel auszog und den Kragen öffnete. Obwohl sie im Augenblick nicht so aussah, war sie sicher nicht halb so hilflos, wie er zunächst gedacht hatte, und sicher brauchte sie nicht einmal einen Bruchteil der Unterstützung, die er ihr geben wollte. So, wie sie ihm heute entgegengetreten war, hatte sie mehr Mut als viele Männer. Ganz sicher war sie mutiger als Bertie, vielleicht sogar mutiger als er selbst. Und damals, als sie gegen den Lieutenant mit dem Anwerbetrupp aufbegehrt hatte - er war zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, um ihr zu danken, aber sie hatte wie eine Löwin für ihn gekämpft. So viel, dachte er, über die zarte, hilflose Lady Byfield.
Kopfschüttelnd legte er sich in die untere Koje. Er hatte weder seine Hose noch sein Hemd ausgezogen und lag auf der Decke. Er wusste nicht, was sie im Bett trug, aber er wollte sich selbst nicht in Versuchung führen, indem er mehr Kleidungsstücke ablegte als unbedingt notwendig. Jedenfalls nicht in der ersten Nacht.
Fühlte auch Caro die Versuchung? Ihr sehnsüchtiger Gesichtsausdruck war kaum misszuverstehen, und ihre geöffneten Lippen luden zu einem Kuss geradezu ein. Auch wenn sie so unschuldig wirkte, war sie doch eine erfahrene Frau. Sie kannte beides, konnte Genuss verschaffen und selbst genießen. Beinahe hätte er bei dem Gedanken laut aufgestöhnt.
Er schob die Hände unter den Kopf, schloss die Augen und versuchte, die Frau, die so nahe bei ihm lag, zu vergessen. Anstatt weiterhin auf ihren gleichmäßigen Atem zu lauschen, zwang er sich, auf die Geräusche des Schiffes zu hören: auf den Wind, der sich in den Segeln fing, auf das Schlagen der Wellen an den Rumpf, auf das Quietschen und Knarren des Holzes und auf die Rufe der Wachen.
Diese Geräusche waren ihm so vertraut, dass er sie bald kaum noch wahrnahm, und allmählich entspannte er sich bei den sanften Schaukelbewegungen des Schiffes. Er war schon so lange nicht mehr auf See gewesen. Viele Monate hatte er im Haus seiner Schwester verbracht, und selbst jetzt fühlte er sich noch eigenartig fremd hier.
Er lag in seiner Koje, angenehm gesättigt vom Abendessen. Statt des üblichen Pökelfleisches hatte es frischen Braten gegeben. Der Koch hatte das Schwein geschlachtet, das Jeremiah bei ihrem kurzen Aufenthalt in Gibraltar für seine Männer gekauft hatte. Das Fleisch hielt sich nicht lange in der heißen Sonne des Mittelmeerraumes, daher hatten sie alles aufgegessen und es genossen, von allem genug zu haben, nachdem die Rationen auf See seit Wochen immer kleiner geworden waren. Zu dem Schweinebraten hatte es Brot gegeben, richtiges Brot, nicht die harten Kekse, die man sonst an Bord aß, frische Erbsen, süße Orangen und zum Nachtisch Pudding aus Sahne und Eiern.
David hatte ihn in seiner Kabine besucht. Sie hatten zusammen auf die Überfahrt getrunken, so schnell waren sie noch nie von Portsmouth nach Marseille gelangt. Wenn der Wind sich nicht drehte, dachte Jeremiah schläfrig, dann würden sie die französische Hafenstadt morgen Abend erreicht haben. Er könnte dann die süße kleine Gastwirtstochter treffen, die er letztes Jahr kennengelernt hatte. Bernadette, oder war ihr Name Antoinette?
Erschrocken richtete er sich auf. Holz splitterte, und mit einem Krachen wurde seine Kabinentür aufgebrochen, sodass sie gegen das Schott schlug.
„ Was, zum Teufel...“
Aber der Mann bewegte sich durch die dunkle Kabine wie eine Raubkatze und warf sich auf ihn. Er war fast so groß wie Jeremiah und kämpfte wie einer, der Spaß am Töten hatte, ln der totalen Finsternis der mondlosen Nacht wehrte Jeremiah sich gegen einen Feind, den er nicht sehen konnte, nur fühlen. Der Fremde presste ihn nieder und raubte ihm beinahe den Atem: ein muskulöser Mann mit einem lockigen Bart.
Und dann spürte Jeremiah die Messerklinge. Eine gebogene, kalte Klinge, die so fest gegen seine Kehle gepresst wurde, dass jeder Atemzug
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