Die Lady in Weiß
den Kopf auf, um Caro anzusehen. Sie wusste, er bemühte sich sehr, so zu wirken, als sei überhaupt nichts geschehen. Doch sein Gesicht war blass und gezeichnet von Kummer, und obwohl sie ihm das niemals gesagt hätte, rührte es sie, wie sehr er versuchte, seine Schwäche vor ihr zu verbergen.
„Aber ich sitze hier und erzähle von mir, als verkündete ich die Bergpredigt“, sagte er. „Dabei ist nichts langweiliger als die Familiengeschichte anderer Leute.“
„Aber ich finde es gar nicht langweilig! “ Caro wurde sich auf einmal bewusst, dass sie nur mit ihrem Nachthemd bekleidet war. Sie hockte sich auf den Boden und zog den zarten Stoff über die Knie. „Ich selbst habe keine Familie, weißt du. Ich bin ein Waisenkind.“
Er zog fragend eine Augenbraue hoch. „Aber irgendjemand hat dich doch auf der Hampshire Farm großgezogen. “ „Das war nicht meine Mutter“, sagte sie und wandte schnell den Kopf ab. „Sie starb, als ich noch sehr jung war, genau wie deine Mutter. Ich kann mich kaum an sie erinnern.“
Jeremiah wusste, dass sie log. Zu spät fiel ihm ein, was seine Schwester ihm über Caros Mutter erzählt hatte. Wenn das Gerücht stimmte, dann hatte Caro ihre Mutter bestimmt nicht vergessen. Wahrscheinlich konnte sie sich nur zu gut an sie erinnern.
Er streckte den Arm aus und zog ihre Hand an seine Lippen. „Was sind wir doch für ein schönes Paar! sagte er leise. „Gepeinigt von der Vergangenheit, die keiner von uns ungeschehen machen kann.“
„Ein schönes Paar, allerdings“, entgegnete sie betrübt. Sie entzog ihm ihre Hand, stand auf und drehte sich zu der Laterne um. „Stört es dich, wenn ich das Licht brennen lasse? Die vielen fremden Geräusche machen mir sonst angst.“ „Nein, Liebes, es stört mich nicht. Wir machen alles so, wie du es haben willst.“
Das Licht der hin und her pendelnden Laterne fiel auf ihr Gesicht, und er sah, dass sie lächelte. Und auf einmal wusste er, dass sie die einzige Frau war, die er jemals lieben würde.
Bertie war allein in seiner Kabine. Er fluchte vor sich hin, während er seinen verbeulten Zinnkrug mit Rum und Wasser füllte. Er hätte niemals zustimmen sollen, dass die Frau an Bord kommt. Seit Adam und Eva hatten die Frauen den Männern immer nur Kummer, Sorgen und Unzufriedenheit gebracht. Das hübsche kleine Frauenzimmer mit dem silberblonden Haar und dem grobschlächtigen Ehemann war da keine Ausnahme. Dieser verdammte Bastard! Wie konnte er es wagen, ihn auf seinem eigenen Achterdeck so dreist herauszufordern!
Er nahm die schwere lederne Posttasche aus seiner Seekiste und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Die Briefe fie-len durcheinander, und Bertie wühlte mit beiden Händen darin herum. Die kleinsten, die fein beschriftet waren und zart dufteten, waren meistens von Damen geschrieben und an die Seeleute gerichtet, die in Neapel auf englischen Schiffen stationiert waren. Im späteren Verlauf der Reise, wenn er etwas Unterhaltung brauchen konnte, wollte er sich mit denen beschäftigen. Einige dieser feinen Damen schrieben die gewagtesten Liebesbriefe, die man sich vorstellen konnte.
Jetzt suchte Bertie nach Briefen von Geschäftsleuten oder von der Regierung, aus denen er interessante Neuigkeiten erfahren konnte. Einige seiner erfolgreichsten Unternehmungen hatte er solchen Briefen zu verdanken. Sie hatten ihm den kleinen Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschafft, der nötig war, und Bertie lächelte zufrieden, als er den Briefstapel vor sich betrachtete. Da das Verhältnis zu Frankreich so ungewiss war, hatte jeder besorgte Geschäftsmann diese vielleicht letzte Gelegenheit ergriffen, um an seinen Vertreter oder Agenten in Italien zu schreiben.
So behutsam wie ein Chirurg schob Bertie ein kleines scharfes Messer unter das Siegel des ersten Briefes und öffnete es, ohne das Wachs zu zerbrechen. Der Name des Absenders war ihm nicht bekannt, aber der Name der Empfängerin - Lady Byfield, eine uralte Countess - hatte sofort seine Aufmerksamkeit erregt. Es hieß, dass die Countess gute Beziehungen zur Königin von Neapel unterhalte, was am neapolitanischen Hof wichtiger war als gute Beziehungen zum König. Briefe an die Countess konnten interessante Neuigkeiten enthalten.
Aber als Bertie den Brief überflog, schien er ihm nicht sehr vielversprechend. Es ging um einen mittellosen Enkel, der über seine Verhältnisse lebte und sich beklagte, dass sein Pferd lahmte und seine Tante ihm kein Geld gab. Das war weder nützlich noch
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