Die Lady in Weiß
einzige an Bord, während Delafosse das Blatt eingehender betrachtete. Jeremiah hielt den Atem an. Er hatte den Herkunftsort der Schaluppe mit Berties eigener Tinte abgeändert, und seiner Meinung nach war kein Unterschied zu erkennen. „Es erscheint mir äußerst sonderbar, monsieur, dass die Engländer ihren neuen Städten in den amerikanischen Kolonien dieselben Namen gaben wie den Städten in ihrer alten Heimat. Hier haben wir ein Portsmouth in Amerika, das ohne Zweifel nach dem englischen Portsmouth benannt wurde.“ Delafosse strich mit dem Finger leicht über den Schriftzug. „Dieses Portsmouth liegt in Rhode Island, nicht wahr? In der Nähe der Hauptstadt Providence?“ Jeremiah war vorsichtig geworden. Es war ungewöhnlich für einen Europäer, zu wissen, dass Rhode Island ein Staat war, und noch dazu den Namen der Hauptstadt zu kennen. Vielleicht hatte er diesen Franzosen unterschätzt. Er musste sich zusammenreißen. „Ja, es liegt in Rhode Island, aber näher bei Newport als bei Providence.“
„Ah, mein Fehler!“ Der Franzose sah Jeremiah mit seinen dunklen Augen aufmerksam an. „Aber diese ganz hervorragende Bibliothek, die von Monsieur Abraham Redwood, die ist doch in Portsmouth, oder?“
„Auch die ist in Newport, Lieutenant.“ Auch Jeremiah beobachtete Delafosse genau. „Wie Sie sehr wohl wissen.“
„Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?“ Der Franzose lächelte säuerlich und faltete die Papiere wieder zusammen. „Ich war während des Unabhängigkeitskrieges in Newport stationiert. Zwar war ich damals fast noch ein Kind, aber natürlich habe ich an Rhode Island und seine Bewohner nur die besten Erinnerungen. “
Jeremiah klemmte die Ledermappe unter seinen Arm. „Trotzdem zweifelten Sie an meinen Worten und unterzogen mich einer Prüfung?“
Delafosse zuckte die Schultern. „Ein Anglais hätte Mr Redwoods Bibliothek nicht gekannt. Ich wollte ganz sichergehen. Ihre Schaluppe wäre eine ausgezeichnete Prise gewesen.“ Noch einmal ließ er den Blick über die Raleigh schweifen, diesmal mit sichtlichem Bedauern. Dann bedeutete er seinen Männern, von Bord zu gehen. „Bonsoir, monsieur, madame, et bon voyage!“
Sie waren kaum außer Sichtweite, als Caro auch schon ihre Arme um Jeremiahs Nacken legte. Sie lachte vor Erleichterung und schmiegte sich an ihn. „Ich habe es ja gesagt, du wirst sie täuschen! “, rief sie aus und schob den Schleier zurück. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn rasch. „Du warst perfekt, Jeremiah! Und so schlau! Was du nicht alles über diese Orte in Rhode Island weißt! “
„Das ist meine Heimat, Caro“, entgegnete er. Er legte den Arm um ihre Taille, um sie zu stützen. „Ich sollte darüber Bescheid wissen. Aber deine Vorstellung war auch nicht schlecht.“
„Ach, das war gar nichts im Vergleich zu dir“, sagte sie lachend. Sie wagte nicht, ihn noch einmal zu küssen, doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, wenigstens ihre Hand zärtlich auf seine raue Wange zu legen. „Aber diesmal wird zumindest kein Preis auf deinen Kopf ausgesetzt. Das ist doch schon mal etwas.“
Er warf ihr einen übertrieben finsteren Blick zu. Von Natur aus war er eher ernsthaft veranlagt, aber wenn Caro so scherzte wie jetzt, konnte er ihr nur schwer widerstehen. „Man muss dankbar sein für die kleinen Dinge des Lebens.“ „Mir schien es eine ziemlich große Sache.“ Sie schlug mit der Faust gegen seine Brust. „Wer will schon in einem düsteren französischen Gefängnis eingesperrt sein?“
Er lächelte und genoss diesen kurzen Moment des Glücks. So wie jetzt war es früher zwischen ihnen gewesen, die ge-
meinsam bestandenen Abenteuer hatten sie einander nähergebracht. Er hatte sich in den vergangenen Wochen so sehr bemüht, sie möglichst wenig zu beachten, damit es keine Missverständnisse gab, dass er den Anblick ihrer Schönheit jetzt förmlich in sich aufsog, als könnte er nicht genug davon' bekommen.
Seidige goldblonde Haarlocken hatten sich unter der strengen schwarzen Schute hervorgeschoben. Trotz Hut und Schleier hatte sie noch mehr Sommersprossen bekommen, und zu seiner Zufriedenheit bemühte sie sich nicht, sie mit Puder oder Schminke zu verbergen. Vor allem aber sah sie glücklich aus, unsäglich, überschäumend glücklich. In ihrem Gesicht spiegelten sich seine Gefühle wider, und doch wusste jeder von ihnen, dass es so nicht bleiben würde.
Die Besatzung war damit beschäftigt, das Schiff wieder
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