Die Lady mit der Feder - Roman
Antwort, da wieder Gestein auf den Schutt polterte. Rauch stieg an mehreren Stellen auf. Unter
den Steinen mussten Brände aufgeflammt sein. Wer unter dem Schutt steckte, konnte verbrennen, ehe Rettung kam. Ein Stöhnen kam ihr über die Lippen, als die Finger sie noch fester umklammerten, doch ein noch viel tieferer Schmerz kam aus ihrem Herzen.
»Isabella, bist du sicher, dass du nicht verletzt bist?« Jordan kniete neben ihr.
»Ja, mir fehlt nichts.«
»Wir müssen hier weg. Die Außenmauern können jeden Moment einstürzen.«
Sie deutete auf die Hände. »Da liegt jemand unter dem Block. Ich brauche Hilfe, um ihn herauszuziehen.«
Er legte mit Hand an und zerrte fest.
»Nicht zu fest«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir könnten ihn verletzen, außerdem müssen noch andere unter dem eingestürzten Dach liegen. Wir müssen sie finden und herausschaffen, solange es noch geht.«
»Ihr seid heilkundig. Ihr werdet uns sagen, was zu tun ist.«
Uns? Sie blickte über die Schulter. Hinter ihnen standen Leute, alle mit grauem Staub bedeckt, der bei jedem Wort, das sie sprach, zwischen den Zähnen knirschte.
»Zieht ihn vorsichtig heraus«, sagte sie und ließ die Hände los. Sie stand auf. »Sucht nach Überlebenden und hört auf Hilferufe. Bewegt keine Steine, ohne euch zu vergewissern, ob nicht andere Steine ins Rutschen geraten. Es müssen hier noch Überlebende sein. Wir müssen sie finden. Wenn jemand den Bruder Krankenpfleger des Klosters sieht, sagt ihm, dass ich hier bin und helfe.«
Die Leute zerstreuten sich und durchwühlten von den
Rändern her den Trümmerhaufen. Andere Stimmen kamen aus allen Richtungen, und Isabellas Anordnungen wurden für jeden wiederholt, der in die Nähe kam.
Gebückt sah sie zu, wie Jordan langsam an den Händen zog. Sie hörte leises Stöhnen, als ein Mann unter dem geborstenen Stein auftauchte, mit feinem Steinstaub bedeckt, so dass sie sein Alter nicht schätzen konnte. Sein rechter Arm hing schlaff herunter und schleifte über den Boden nach. Jordan, der zwei zerbrochene Holzstücke fand, riss ein Stück von der Tunika des Mannes ab, richtete den Arm ein und schiente ihn.
»Mylady?«, fragte eine zitternde Stimme hinter ihnen.
Sie schaute auf und sah einen älteren Mönch. Eine Gesichtshälfte war aufgeschürft, seine spärlichen Haarsträhnen waren dick mit Staub bedeckt. »Ja?«
»Ich bin Bruder James, der Krankenpfleger.«
»Steht Eure Kräuterkammer noch?«
»Ja.«
»Dem Himmel sei Dank«, stieß sie hervor, während sie bereits aufstand.
»Was benötigt Ihr, Mylady?«
Sie zählte die Kräuter auf. »Geißklee, Schwertlilie, Rotnesselwurz, Wasserschierling, Schlüsselblumen, Mannstreublätter, Pisangblätter, Anis, Kümmel, Fenchel, Wiesenkümmel und ungesalzene Butter.«
»Ich verstehe. Das ergibt eine Heilsalbe, die bei vielen Verletzungen hilft.«
Sie lächelte. »Wir brauchen Schienen für Knochenbrüche sowie sauberen Faden und Nadeln zum Vernähen der Wunden. Während Ihr den Kräuterabsud kocht und mit der Butter
vermischt, brecht einige Mohnkapseln auf und fügt sie Wein hinzu. Das verschafft denen Schlaf, die Schmerzen leiden, sowie jenen, die noch unter Schockeinwirkung stehen.«
Sie nahm sich nur Zeit, Jordan zu sagen, dass sie mit dem Mönch für die Versorgung der Verletzten sorgen würde, und nickte, als er sagte, er wolle sich einem Suchtrupp anschlie ßen. Sie wollte ihm noch die Ermahnung mit auf dem Weg geben, er solle vorsichtig sein, wiewohl sie wusste, dass er keine Gefahr scheuen würde, um Leben zu retten.
Mit dem Fortschreiten des Tages wurde Isabella alles an Wissen und Geschicklichkeit abgefordert, was sie in der Abtei gelernt hatte. Der dichte Qualm, der in der Luft lag, verriet ihr, dass die Kathedrale nicht das einzige in Brand geratene Bauwerk war. Ein Blick auf die Stadt unter ihr hatte ihr dicke schwarze Rauchwolken gezeigt. Ob es Überlebende gab, die die Flammen ersticken konnten? Wenn nicht, konnte die ganze Stadt innerhalb der Stadtmauern abbrennen.
Bruder James half mit, als sie bestimmte, wer zuerst behandelt werden musste und wem nicht mehr zu helfen war. Sie hörte aus allen Richtungen des Hofes an der Westfront das Gemurmel der Priester, die das Sterbesakrament spendeten. Menschen kamen aus den eingestürzten Häusern am Abhang des Hügels. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde von den Gehfähigen getragen.
Als die Erde erneut erbebte, hörte man aus allen Richtungen Schreie und Gekreisch. Nun fielen
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