Die Lady mit der Lanze
und hielt die Augen geschlossen. Eine Blutspur zog sich seitlich über sein Kinn. Sie ging, auf der Hut vor einer Finte, vorsichtig Schritt für Schritt näher, streckte ihren Stock wie eine Lanze aus und stieß den Mann an. Er rührte sich nicht. Sie hob seine Linke mit dem Stock an und ließ sie wieder los. Die Hand sank schlaff zu Boden.
Elspeth ging zum Brunnen und lehnte ihren Stock daran. Sie schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und schüttete es dem Mann ins Gesicht. Als er heftig prustete und spuckte, griff sie nach ihrer Waffe und hielt diese an seine Brust. Er schlug die Augen auf, und sie las Erstaunen darin.
»Hoffentlich habe ich Euch nicht zu arg zugesetzt«, sagte sie.
Er rollte sich weg und unternahm zwei Versuche, auf die Knie zu kommen. Ohne ihre ausgestreckte Hand zu beachten, stand er ganz langsam auf. Schwankend versuchte er einen Schritt. Nach seinem Stock greifend, benutzte er ihn als Stütze, um sich auf den Beinen zu halten. Er wischte Blut von seiner aufgesprungenen Lippe und lächelte. »Nicht zu arg.«
Sie verbeugte sich und sah erstaunt, dass er ihrem Beispiel folgte. Gleich darauf vernahm sie hinter sich ein leises, seidiges Rascheln und drehte sich um. Hinter ihr stand die Königin. Der Mann hatte der Königin die Ehre erwiesen und nicht der Frau, die ihn bezwungen hatte.
Auch Elspeth setzte zu einer Verbeugung an, die Königin aber bedeutete ihr, aufrecht zu bleiben.
»Ihr hattet eine würdige Gegnerin, Sir Bernard«, sagte Königin Eleanor in der melodiösen Sprechweise ihrer aquitanischen Heimat. »Ihr wart klug, den Kampf abzubrechen.«
»Ich möchte Revanche«, sagte Sir Bernard, der den Kopf hob und seinen Griff um den Stock verlagerte.
»Vielleicht ein andermal.« Die Königin sah Elspeth an. Ihr Blick war kühl und schätzte das Mädchen abermals ab. »Lady Elspeth soll für mich eine Aufgabe erledigen.«
Lady Elspeth? Die Königin zu korrigieren war undenkbar, doch kam Elspeth dieser Titel nicht zu, da sie nicht edler Abkunft war.
Als wüsste Königin Eleanor um ihre Gedanken, sagte sie: »Jede Frau in diesem Kloster, die meine Befehle ausführt, erhält den Titel Lady.«
»Fordert von mir, was Ihr wollt. Ich bin hier, um Euch zu dienen, und bin glücklich …« Wieder ermahnte sie sich, den Mund zu halten, konnte aber die Vorfreude, die sie durchströmte, nicht bezähmen. Bis vor mehr als einem Jahr hatte keine der Schwestern im Kloster gewusst, warum sie zu Kämpferinnen ausgebildet wurden. Dann war die Königin zum ersten Mal seit der Gründung des Klosters gekommen und hatte die Hilfe einer der Schwestern beansprucht.
Das Kloster hatte seine Gründung dem Weitblick der Königin zu verdanken. In Zeiten der Gefahr, wenn Verbündete rasch zu Gegnern wurden, musste eine kluge Frau für jeden Kampf gerüstet sein. Nicht für Glaubenskämpfe, wohl aber für solche, die die Königin ihrer Macht berauben und den englischen Thron schwächen konnten.
St. Jude … der Schutzpatron hoffungsloser Fälle. Die Königin hatte den Namen der Abtei gut gewählt, da sie sich nur in scheinbar aussichtslosen Fällen an die Klosterinsassinnen wandte, die ihr in den Sälen und Gärten der Abtei erworbenes Kampfgeschick im Dienst der Königin einsetzen sollten.
»Kommt mit mir«, forderte die Königin sie auf.
Elspeth gehorchte und ging mit der Königin zum Wandelgang. Die anderen Schwestern traten beiseite und bedachten Elspeth mit neugierigen und mitfühlenden, ja sogar mit neidischen Blicken. Alle wollten eine Chance, um zu beweisen, dass sie des Schutzes der Herrscherin würdig waren, doch wussten auch alle, wie verzweifelt die Lage sein musste, wenn die Königin gekommen war, um in St. Jude’s Abbey Hilfe zu suchen.
Königin Eleanor sagte kein Wort, bis sie auf den Hof vor dem Kapitelhaus, einem gedrungenen Bau neben der Kirche, hinausgetreten waren. »Die Rückkehr des Königs, der in Irland weilt, steht kurz bevor. Wie schon auf der Hinreise wird er durch Wales kommen, wenn er die Irische See überquert hat. Und just in Wales soll seinem Leben Gefahr drohen, wie ich vor Kurzem hörte.«
Elspeth nickte wortlos. Machte sie jetzt den Mund auf, konnte es geschehen, dass sie redete und redete, bis ihr das Allerschlimmste über die Lippen kam. Selbst im Kloster munkelte man von der Untreue des Königs, doch wagte niemand laut auszusprechen, dass es um das königliche Eheglück nicht gut bestellt war, da man nicht wusste, ob das Gerücht auf Wahrheit beruhte oder nur reiner
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