Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
Wohnzimmer. Aber auch ihren Vater sah sie nirgends, was sie ein wenig verwunderte. Vielleicht war er krank – einen anderen Grund, warum er bei einem solchen Anlass nicht anwesend war, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie erkannte mehrere Leute, aber keiner schien sie zu erkennen. Erleichtert seufzte sie auf.
Sie entspannte sich und erlaubte sich, ein wenig den Kopf zu drehen, während sie sich in dem großen Raum umsah. Plötzlich fing ihr Herz an, stärker zu klopfen. Sie hatte ihre Schwester gesehen. Bea trat mit Charles zusammen in den Salon. Sie hielt seinen Arm. Und dort hinten, den Kopf kaum sichtbar in dem Gedränge, war auch Edmund. Mehrere Trauergäste gingen zu Charles hinüber; offensichtlich kondolierten sie ihm. Selbst aus der Entfernung konnte Charlotte erkennen, dass er erschreckend bleich war.
Bea beugte sich zu Edmund hinunter, ihre Hand ruhte auf seiner Schulter, als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte. Ihre Schwester tröstete ihren, Charlottes, Sohn? Aus irgendeinem Grund verursachte ihr diese Vorstellung – nein, die Realität dessen, was sie da sah –, Übelkeit. Edmund lief plötzlich weg. Er verschwand in der Menge und Bea wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Charles zu.
Charlotte wusste, dass sie einfach zu Charles hingehen und ihm ein paar teilnehmende Worte sagen konnte. Wenn es ihr gelang, die eisigen Blicke ihrer Schwester zu ignorieren, würde sie es sogar fertigbringen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Sie seufzte. Selbst wenn Bea nicht an Charles' Seite Wache stehen würde, hätte sie nicht den Mut dazu.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und wollte gehen. Im Flur wäre sie fast mit Edmund zusammengestoßen. Er blickte mit schräg gelegtem Kopf zu ihr hoch.
»Sie sind Cousine Charlotte.«
Sie hob den Schleier von ihrem Gesicht. »Das stimmt. Du hast ein sehr gutes Gedächtnis.«
»Meine Mutter ist gestorben«, sagte er feierlich.
Sie nickte. »Ja, ich weiß. Es tut mir sehr leid.«
»Das sagen hier alle.«
Charlotte ging in die Hocke, sodass sie auf Augenhöhe mit ihm war. »Aber auch wenn sie fort ist – du bist nicht allein.«
»Ich weiß. Ich habe immer noch Vater.«
»Ja, und es gibt noch andere, die dich lieben.«
»Sie meinen Bea?«
Charlotte schluckte. »Bea?«
Er zuckte die Achseln und sagte sachlich: »Mami ist jetzt im Himmel.«
»Das stimmt. Du bist ein kluger kleiner Junge.«
»Ich bin nicht klein.«
»Gut, Edmund. Du bist sehr groß. Und viel zu weise.«
»Haben Sie keine Kinder?«
»Ich … nein, im Moment nicht.«
»Sie weinen ja.«
»Wirklich?«
»Vater weint auch manchmal. Ich auch.«
»Natürlich.«
Sie lächelte den Jungen unter Tränen an und gestattete sich, die Hand auszustrecken und ihn kurz zu berühren. Dann zog sie die Hand wieder zurück und erhob sich.
Sie sah zu, wie Edmund durch die Tür ging, aus der sie gerade herausgekommen war. Er ging geradewegs zu seinem Vater und Bea. Charlotte schlüpfte rasch hinter die Tür. Außer Sicht, aber nicht außer Hörweite.
»Cousine Charlotte ist hier, Vater«, hörte sie Edmund sagen.
»Charlotte? Wo?«
»Oh … ich sehe sie nicht mehr.«
»Was hat sie zu dir gesagt?«, fragte Charles.
Edmunds Antwort konnte sie nicht verstehen.
Charlotte riskierte einen Blick in den Raum und sah Charles, der über Edmund gebeugt war. Seine Hand lag auf dem Scheitel seines Sohnes, so wie ihre noch vor Kurzem. Als sie merkte, dass Charles plötzlich in ihre Richtung blickte, duckte sie sich instinktiv. Rasch ging sie zu dem improvisierten Garderobenzimmer, um ihren Umhang zu holen. Sie trat hinter den orientalischen, von zwei Topfpalmen flankierten Paravent, der den unordentlichen Stapel Mäntel vor den Blicken der Gäste verbarg. Er verbarg auch sie.
Als sie Schritte hörte, spähte sie durch die Lamellen des Wandschirms. Von ihrem Versteck aus sah sie Charles in den Flur kommen und suchend in beide Richtungen schauen. Sie kam sich dumm vor hinter ihrem Schirm. Sollte sie hervortreten und ihm kondolieren?
Doch dann trat Bea zu ihm und nahm seinen Arm. »Mach dir keine Gedanken, Charles. Ich nehme an, sie hatte das Recht herzukommen, aber ich wünschte, sie wäre fortgeblieben und hätte dir nicht den Tag verdorben. Wenigstens besaß sie den Anstand, sich im Hintergrund zu halten. Andererseits frage ich mich, was sie sich dabei dachte, mit Edmund zu sprechen?«
Charles stand ganz still, als lausche er, als versuche er, ihre Gegenwart zu spüren. War er ärgerlich, dass sie gekommen war? Wollte
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