Die Lagune Der Flamingos
zog die Augenbrauen hoch. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Deine Mutter ist sehr fleißig.«
»Ja, das ist sie.«
»Wo habt ihr gelebt? Hier in Argentinien, meine ich?«
Mina überlegte blitzschnell. Was sollte sie antworten? Wann würde sie zu viel verraten?
»In der Nähe von Rosario. Aber dann ist er …«, sie konnte einfach nicht »mein Stiefvater«, sagen, noch nicht einmal seinen Namen konnte sie aussprechen, »auch gestorben.«
»Das tut mir leid.«
Eduard stand ebenfalls auf. Als hätte er bemerkt, dass Mina nicht weiter über das Vergangene sprechen wollte, bot er ihr den Arm. Mina hakte sich bei ihm unter. Seite an Seite spazierten sie den schmalen Weg zwischen hohem Buschwerk entlang, der auf die weite Steppe hinausführte. Mina wurde es unbehaglich, als sie bemerkte, dass ihr einfach keine Worte mehr einfallen wollten.
Als Eduard es bemerkte, versuchte er, ihr über ihre Unsicherheit hinwegzuhelfen. »Schau einmal da, Mina«, sagte er mit seiner warmen Stimme.
Es war inzwischen früher Abend. In einiger Entfernung zeichneten sich die Leiber einer Rinderherde vor dem Horizont ab. Mina konnte jetzt sogar ihr Brüllen hören, das sie vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Und dann, so plötzlich wie sie am Horizont aufgetaucht waren, verschwanden die Tiere auch schon wieder, eingehüllt in einer von den letzten Strahlen der Sonne orange gefärbten Staubwolke.
Mina war verzückt. Eine Weile gab sie sich noch dem traumhaften Bild hin, dann kam sie wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Komm, lass uns zum Haus zurückgehen«, sagte sie.
Drittes Kapitel
So verging Woche um Woche, Monat um Monat. Auf den Herbst folgte der Winter, auf den Winter folgte das Frühjahr. Nun begannen die arbeitsamsten Tage auf La Dulce: Die esquila , die Schafschur, war in vollem Gange. Mina wartete am Rand der Koppel und schaute zu, wie zwei berittene Knechte die Schafe in die Umzäunung trieben. La Dulce besaß eine große Schafherde. Die Männer und Frauen waren schon seit Tagen bei der Arbeit, aber die Abläufe hatten für Mina bisher nichts an ihrer Faszination verloren.
Blitzschnell, so kam es der jungen Frau vor, packten die Schafscherer die Tiere und befreiten sie von ihrer Wolle. Danach kümmerte sich ein »Doktor«, zumeist ein Junge oder ein alter Mann, um die Schnitte, die den Schafen versehentlich durch die Scheren beigebracht worden waren, um die Gefahr einer Infektion gering zu halten. Andere schärften unterdessen ständig die Messer, um sauberes, schnelles Scheren zu gewährleisten. Wieder andere bündelten die Wolle für den Abtransport nach Buenos Aires.
Auf den anderen Estancias sah es um diese Jahreszeit ähnlich aus. Überall arbeiteten Gruppen von zwanzig bis dreißig Schafscherern unter einem Vorarbeiter. Ein Mann schor durchschnittlich fünfunddreißig bis fünfzig Tiere pro Tag. Auch Frauen fanden sich unter den begehrten Fachkräften, die, so hieß es, zwar etwas langsamer arbeiteten, den Tieren aber gleichwohl weniger Schaden zufügten und deshalb beliebt waren. Während der esquila konnte ein einfacher Wanderarbeiter höheren Lohn verlangen und in kurzer Zeit eine Menge Geld verdienen. Dies half gewiss auch über den Umstand hinweg, dass die Schafe während der esquila wichtiger waren als die Menschen. So mussten die Wanderarbeiter, wenn sie zuvor bei schlechtem Wetter zumindest Schutz in Scheunen oder offenen Verschlägen hatten suchen dürfen, zunächst die Tiere vor Nässe schützen. Nasse Wolle konnte schließlich nicht geschoren werden. Da zur gleichen Zeit auch der Weizen ausgesät wurde, gerieten die Estancieros alljährlich in einen Wettbewerb um die plötzlich raren Arbeitskräfte.
Als Bezahlung wurden latas ausgegeben, Metallmarken mit dem Namen der Estancia darauf, die als Zahlungsmittel benutzt werden konnten. Pro hundert geschorener Tiere erhielt ein Schafscherer eine Marke, jeweils am Ende der wochenlangen Prozedur wurde ausgezahlt.
Das Ende der esquila wurde auf jeder Estancia mit einem großen Fest gefeiert, natürlich auch auf La Dulce.
»Sie machen sich keine Freunde mit Ihrem Verhalten, Señor Brunner!« Don Mariano beugte sich näher zu Eduard hin. »Es ist nicht gut, wenn Sie Ihre Arbeiter stets behalten, wenn es nichts zu tun gibt. Wir zahlen die Männer hier nicht fürs Herumlungern. Das haben wir noch nie getan. Wenn die Arbeit getan ist, müssen sie weiterziehen, so ist das eben. Sie sind daran gewöhnt. Sie kennen es nicht anders.«
»Niemals!« Eduard
Weitere Kostenlose Bücher