Die Lagune Der Flamingos
Sie erinnerte sich daran, wie gern sie einmal gekocht hatte, und bot an, in der Küche zu helfen. Neugierig ließ sie sich bald von der Köchin Appollonia neue Gerichte beibringen. An diesem Abend sollte es locro geben.
»Für locro braucht man Mais, Bohnen, Fleisch oder Innereien und getrocknete Chili«, erklärte Appollonia.
Sie begann, einen kleinen Reim zu ersinnen, mit dem man sich, wie sie meinte, die Zutaten gut merken könne. Annelie amüsierte das.
Auch zum Mate-Tee wusste Appollonia einiges zu erzählen. Mit Mate konnte man nämlich Botschaften übermitteln. Bitterer Mate bedeutete Gleichgültigkeit, süßer verhieß Freundschaft. Mit einem Mate mit Minze drückte man Missfallen aus. Mate mit Zimt hieß, dass man an den Teetrinker dachte. Mate versetzt mit braunem Zucker stand für Seelenverwandtschaft. Mit Orangenschalen versetzter Mate drückte aus: Komm, besuch mich. Mate mit Kaffee hieß, dass eine Entschuldigung angenommen wurde.
»Es ist schön hier«, sagte Annelie unvermittelt.
»Ach«, erwiderte Appollonia, »es kann hier draußen auch sehr kalt werden. Das wirst du sehr bald merken. So ein Haus wie La Dulce ist natürlich ein guter Schutz, aber daheim habe ich wirklich oft erbärmlich gefroren. Manchmal war’s so kalt, dass wir uns sogar tagsüber ins Bett flüchteten.« Die Köchin schüttelte den Kopf. »Und im Sommer, wenn man sich gut zwischen den hochgewachsenen Disteln verstecken kann, da kommen dann die Räuber. Früher musste man sich auch noch vor den Indios schützen. Die trieben nämlich gern das Vieh davon, wenn die Disteln zwischen Februar und März verblüht am Boden lagen.«
Annelie schwieg. Die Kälte konnte sie nicht schrecken, auch die Räuber nicht. Sie genoss es, hier zu sein, weit weg von allem, mit wenig Besuch und nur zwei Kutschen, die der Verbindung zwischen La Dulce, der nächstgelegenen Ansiedlung und Buenos Aires dienten. Annelie hatte sich schon lange nicht mehr so sicher gefühlt.
Mina kam in den nächsten Tagen und schließlich Wochen immer wieder an die Lagune, wenn sie ihre Ruhe brauchte. Dieser Ort, so hatte sie sofort bemerkt, strahlte etwas unendlich Friedliches aus, und doch brachte diese ungewohnte Ruhe auch immer wieder die schrecklichen Erinnerungen der letzten Jahre hervor. Anfänglich saß Mina oft nur da und weinte hemmungslos. Nach und nach jedoch verlor die Vergangenheit ihren Schrecken. Schließlich hatte sie den Eindruck, wieder nach vorn blicken zu können, wie sie es Frank und sich geschworen hatte.
Obwohl Eduard gesagt hatte, dass er diesen Ort des Öfteren aufsuchte, um zu entspannen, war Mina doch überrascht, als sie ihn eines Tages tatsächlich dort antraf. Sie grüßten sich fast zaghaft, hockten dann eine Weile schweigend nebeneinander auf dem Boden. Mina suchte nach Worten, wie sie ihm für ihre Gastfreundschaft danken konnte. Jedes Mal, wenn Annelie bisher geäußert hatte, sie müssten wohl jetzt doch bald nach Buenos Aires zurückkehren und seine Gastfreundschaft nicht über Gebühr strapazieren, hatte er den Kopf geschüttelt und sie gebeten, noch zu bleiben. Er hatte ihnen sogar das vertraute Du angeboten.
»Ich bin euch doch über die ganze Arbeit noch gar kein richtiger Gastgeber gewesen«, pflegte er dann zu sagen. »Wir sagen einfach, ihr bleibt beide so lange, wie es euch beliebt, ja?«
Mina räusperte sich, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wieder saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander.
»Warum seid ihr eigentlich nach Argentinien gekommen?«, fragte Eduard dann jäh in die Stille hinein. Mina meinte, ein leises Zittern in seiner Stimme zu hören, das sie sich nicht zu erklären vermochte.
»Warum bist du nach Argentinien gekommen?«, konterte sie, bevor sie recht nachgedacht hatte.
Eduard schwieg, doch sie hatte ihn offenbar nicht verärgert, denn er antwortete schließlich doch: »Ich bin aus meiner alten Heimat weggegangen, weil ich dort nicht vorankommen konnte. Überall gab es Mauern, Beschränkungen, Kleingeist, und das Geld, was man sich mühsam erarbeitete, reichte nur für ein Leben von der Hand in den Mund.«
Mina nickte langsam. »Ja, deshalb sind wohl viele gegangen.« Sie stand auf und trat etwas näher an die Lagune heran, drehte sich dann wieder zu Eduard um. »Mama wollte noch einmal heiraten, nachdem mein Vater gestorben war. Sie wollte … ein neues Leben … Großpapa hat immer gesagt, wir würden ihm auf der Tasche liegen, also sind wir fortgegangen.«
»So, so …« Eduard
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